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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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sagte, ihm sei nicht wohl, wenn er mich so ansehe.
    Darauf rief jemand gellend auf Französisch: „Philippe! Philippe!“ Ich blickte auf und Tauben schossen im Trapez der Eisenkonstruktion des Gare du Nord. Eine knielang gewandete Frau erschien am Kopfende des Bahnsteigs und wedelte mit ihrer um den Hals hängenden gestrickten Boa. Die aus Glas und Stahl konstruierte Riesenkuppel überwölbte die Bahnsteige und die Ankunftshalle. Ich fühlte mich wohler, als der meine Ohnmacht überwachende Philippe aufstand und sich, mir alles Gute wünschend, entfernte, der winkenden Schlange zu. Philippe stolperte. Jaja, da lag eine Bananenschale. Nun hatte er sogar die Erklärung.
    Ich stolperte auch, nicht weil ich ausrutschte, sondern weil ich schwach auf den Beinen war. Die Fotografie eines verschollenen Kindes klebte auf einem Pfeiler. Überall verschwanden Kinder. Die Achtjährige lächelte. Dem Datum nach war das Kind schon seit Monaten verschollen. Ich trank in kleinen Schlucken das kalte Wasser, das mir irgendjemand in einem weißen Pappbecher reichte. Ich hielt die Tasche fest und zählte das Geld nach. Dann wurde es Zeit für mich. Ich versuchte, mich in Marie einzufühlen. Wohin hatte sie sich gewendet?
    Ich strebte zur U-Bahn. Ein weiteres Kindergesicht lächelte mich aus der Grube zwischen den Schlüsselbeinknochen einer jungen Frau an. Eine Hexe streifte scheu an mir vorbei, das Gesicht umflort von knittrig trockenem Silberhaar. Ihr in die Augen schauend, überkam mich das Gefühl, nicht wahrhaftig zu sein. Die Folge davon war Schwindel, ich könnte nicht einmal mehr sagen, welche Farbe ihre Augen hatten. Sie trug einen Knirps. Sie ließ ihn liegen. Ich nahm ihn auf.
    Dann folgte ich einem Tschador, links und rechts führte die Verschleierte je ein Kind an der Hand. Unwillkürlich sah ich in der verhüllten, entweiblichten Gestalt den Tod. Das schwarze Tuch entsprach allen Toden. Der Tod ist anonym, welches Geschlecht er hat, ist unergründlich, immer nur das Gerippe und ein Fetzen als Umhang. Die Unergründlichkeit der verhüllten Gestalt flößte mir Angst ein, und weil ich Angst hatte, hatte ich kein Mitleid mit dieser Frau, sondern wurde wütend auf ihren Gehorsam, ihre Unterwürfigkeit, ihre Ohnmacht. Die Verhüllung verwies sie in die Namenlosigkeit, ins Nichts. Namenlose aller Welt, benennt euch! Namenlose aller Welt, ich nenne euch sonst Opfer!
    Unten am Bahnsteig bemerkten die Kinder der Tschador-Trägerin, dass ich sie entdeckt und einen Narren an diesen Blicken, die mich neugierig und so aufmerksam musterten, gefressen hatte. Die Kinder bissen in Waffeln. Die Verschleierte warf ihre Augenbrauen hoch und hielt sekundenlang Blickkontakt. Mit einem Seitenblick auf die süßen Kinder und einem Lächeln zurück zu ihr schickte ich ihr ein Kompliment und wir nickten einander zu. Sie kniff aus Sympathie kurz die Augen zusammen.
    Ich trat dann für einen Rollstuhlfahrer zur Seite. Ein in eng sitzendem Anzug schwitzender Mann taumelte nach Gleichgewicht, als wir uns in die Kurve neigten. Über den Köpfen warb ein Werbebanner für Pressefreiheit und zeigte einen nur mit Unterhose bekleideten Knaben hinter einer Hecke hockend, zwischen zwei mit Gewehren bewaffneten Schützen, geduckt, ratlos, verzweifelt, entsetzt lauernd, mit geweiteten Augen auf die U-Bahn-Passagiere herabstarrend. Der Hinterkopf eines Vaters, der sein Gesicht in der Schulter seines getöteten Kindes vergrub, war noch in Fetzen vorhanden. Zur humanitären Hilfe wurde aufgerufen, „Spenden Sie Geld“, die Kontonummer war angegeben. Ein neues Frauenmagazin im Pocketformat maß ehrliche zweiundzwanzig Zentimeter. Normalverbraucher suchten darin Nebenjobs und betrieben Gemüseanbau, denn sie konnten nicht dauernd Tote und Verletzte zählen.
    „Du lernst von Tauben mehr“, sprach ein Mund auf Deutsch neben meinem Ohr. Was sollte das heißen, von Tauben zu lernen? Was konnte man von Tauben lernen? Wie sie sich gebärden oder wie sie gurren? Lernen zu hören, ohne ein Gehör zu haben? Meinte der Mund also, dass man von den Tauben Verstehen lernen konnte? Was konnte ich dann von Blinden lernen? Erkennen?
    Als ich mir meiner Sehkraft bewusst wurde, starrte ich in den Schlund eines Gähnenden.
    Ich steckte in der U-Bahn und suchte Zeichen, verließ mich auf meinen Spürsinn. Maries Adresse auf der Einladung war unvollständig, ich wusste nur den Namen des Ortes, Saint-Michel-sur-Orge. Ich wollte zu Marie, der werdenden Gattin.
    Wirklichkeit findet im
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