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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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Schuld daran ist eine schwere Sepsis. Die Zellmembranen sind durchlässig geworden, sodass sich das Wasser aus den Zellen im Gewebe niedergelassen und alles hat aufquellen lassen. Und als Folge der leck geschlagenen Zellmembranen im Gefäßsystem ist der Blutdruck von Frau Rose noch schlechter stabil zu halten als am gestrigen Tag. Jetzt wird es allmählich ungemütlich. Der Giftzwerg steht kopfschüttelnd und mit wirren Haaren am Kurvenwagen, deutet mit dem Kugelschreiber auf die immer höher gestellten Katecholamingaben und zuckt mit den Schultern.
    «Die arme Frau! Und dann kommt hier heute Morgen der Chef reingelatscht und sagt ‹Das kann ja nicht sein›! Was bitte hat er sich denn vorgestellt? Dass Frau Rose die Augen aufklappt und ‹Guten Morgen, Herr Professor!› flötet? Ist dem Chef nach all den Dienstjahren nicht klar, dass es signifikante Unterschiede zwischen einer Intensivstation und einem Märchenwald gibt?»
    Der Giftzwerg und die Eule haben sich im Frühdienst redlich bemüht, den Blutdruck von Frau Rose zu stabilisieren, und dabei zunehmend den Eindruck gewonnen, dass Frau Roses Krankheitsverlauf lebensbedrohlich ist. Mir graut bereits vor der Besuchszeit. Hoffentlich ist nicht wieder die Zicke mit den Perlenohrringen dabei, denke ich und finde mich gleichzeitig gemein.
    Während der Visite macht die Eule deutlich, dass die rapide Abwärtsspirale uns nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken lässt und hier schon ein intensivmedizinisches Wunder passieren müsste, damit Frau Rose dieses Desaster überlebt. Frau Anzug nickt bedächtig, ich nicke mit. Etwas anderes als an ein Wunder zu glauben, scheint kaum möglich; und die Eule schlägt vor, mit den Chefs der Kardiochirurgie und der Bauchchirurgie zu diskutieren, wie es hier weitergehen soll. Wir finden, dass dies ein guter Einfall ist, immerhin effizienter als das klassische «aggressive Zuwarten», wo man im ungünstigsten Fall in einer Situation eine Entscheidung treffen muss, in der es eigentlich schon zu spät ist. Die berechtigte Befürchtung vom Vollbart ist jedoch, dass die Bauchchirurgen sagen werden, der Darm habe sich doch prima erholt, und wir genauso klug sind wie vorher. Der Vollbart entschließt sich, Herrn Rose einmal zu fragen, ob er sich mit seiner Frau schon mal darüber unterhalten hat, welches medizinische Vorgehen sie sich im Ernstfall wünschen würde – ob beide eher nicht von anderen Menschen und Maschinen abhängig sein möchten oder auf jeden Fall alles gemacht werden soll. Wieder nicken alle.
    Nach der Visite kommen Herr Rose und seine Tochter, und diesmal grüßt sie sogar freundlich. Womöglich ist ihr klar geworden, dass sich der Zustand ihrer Mutter nicht ändert, auch wenn sie sich noch so sehr aufbläst und im Internet herumdüst. Oder der Chef hat sie so nachhaltig beeindruckt, dass sie sogar wieder ans Christkind glauben würde.
    Beide stehen vor Frau Rose, und plötzlich bricht ihr Mann in Tränen aus. «Sie sieht gar nicht mehr aus wie meine Frau», schluchzt er und putzt sich geräuschvoll die Nase, «ich glaub auch nicht, dass das wieder wird, wie soll das denn gehen?»
    Und damit spricht er mir aus der Seele. Die Tochter steht daneben und versucht die Fassung zu wahren. Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden, deshalb hole ich den beiden einfach eine Flasche Wasser und zwei Gläser und warte, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt haben. Herr Rose streichelt die kleine aufgequollene Hand seiner Frau, als der Vollbart das Zimmer betritt und die beiden zu einem Gespräch mit dem Chef in das Besprechungszimmer bittet.
    Als die beiden nach etwa einer Dreiviertelstunde wieder zurück ins Zimmer kommen, sind sie sehr still und völlig verheult. Sie wurden vom Vollbart mit der Aussichtslosigkeit der Behandlung konfrontiert: Frau Rose wird aller Wahrscheinlichkeit nach bald sterben. Die Therapie wird nicht mehr ausgeweitet, das heißt, es werden keine weiteren Antibiotika verabreicht und keine Reanimation mehr vorgenommen; lediglich eine ausreichende Versorgung mit Schmerzmedikamenten und Flüssigkeit wird gewährleistet. Die Gefahr, dass die arme Frau zu einer Art Werkstück der einzelnen Abteilungen wird, von denen alle noch irgendwelche «guten Ideen» umsetzen wollen, ist somit zum Glück auch ausgeschlossen.
    Herr Rose ringt zitternd um Luft und sagt: «Dann soll sie sich jetzt auch nicht mehr lange quälen.»
    Die Tochter nickt: «Eigentlich war das doch schon gestern klar», und sieht mich an. Was
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