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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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wie heute.«
    »Wie haben Sie ihn dann erkannt?«
    »Sein rechter Zeigefinger ist verstümmelt. Die Fingerkuppe fehlt. Während Sie mit ihm geredet haben, habe ich auf seine Hand am Gewehr geachtet. Da hab ich’s gesehen.«
    Obermüller kaute stumm weiter. »Letztes Jahr hatten wir schon mal so etwas«, sagte er nach einer Weile.
    »Ah ja?«, sagte sie und steckte sich ein Tomatenviertel in den Mund.
    »Wir sind früh unterwegs gewesen«, fuhr er fort, »halb sieben vielleicht. Plötzlich ein Krach, als würde ein Schwein abgestochen. Und ein Bauer mit Mistgabel, der auf uns zurennt und brüllt wie am Spieß. Fluawereihium schrie er. Fluawereihium. Keine Sau konnte verstehen, was er gemeint hat. Wir sind dagestanden wie zwei Hornochsen, bis bei Grossreither endlich der Groschen gefallen ist. Der Mann hat gedacht, wir kämen von der Flurbereinigung. Wie sich später herausgestellt hat, war sein Hof komplett arrondiert, Hofstelle, Felder, Wiesen, Wald, alles. Aber man hat ihn dennoch zwingen wollen, an der Flurbereinigung teilzunehmen und horrende Gebühren dafür zu bezahlen. Fünfzigtausend oder so. Er hat gedacht, wir kämen vom Amt und wollten heimlich seinen Besitz vermessen. Na, da hätte ich auch zugestochen.«
    »Viel habe ich ja gestern nicht verstanden, aber von Flurbereinigung war, glaube ich, nicht die Rede.«
    »Das stimmt«, gestand Obermüller ein. »Ich dachte ja nur. Gründe, die Mistgabel zu schwingen, wenn Leute vom Amt kommen, gibt’s in jedem Fall genug, oder?«
    »Wenn er den Drilling auf uns angelegt hätte, hätten Sie das sicher nicht witzig gefunden, oder?«
    »Naa«, gab Obermüller zurück. »Da haben Sie auch wieder recht.«
    Er kaute schweigend weiter und blickte zufrieden vor sich hin. Ob Xaver sie heute wieder beobachtete, fragte sie sich. Sie schaute sich um. Der Bewuchs war so eng und dicht, dass man nur wenige Meter Sicht in den Wald hatte. Wirklich gefährlich war Xaver wohl nicht, sonst hätte Grossreither sie bestimmt nicht wieder losgeschickt. Aber seine Warnung verunsicherte sie dennoch. Wäre es vielleicht klüger, nach der Arbeit beim Leybachhof vorbeizuschauen, um den Vorfall von gestern zu klären? Sollte sie mit Anna Leybach reden? Oder mit Waltraud Gollas? Wie würde Xaver Leybach reagieren, wenn sie ihn aufsuchen würde?
    Kurz darauf brachen sie auf. Obermüller kam schneller voran als am Vormittag. Oder war sie langsamer geworden? Das Einhämmern und Herausdrehen des Bohrstocks sah einfach aus, aber selbst mit einer guten Technik war die Arbeit eine Strapaze. Ihr selbst wären nach zwanzig oder dreißig Bohrungen die Arme abgefallen. Obermüller hingegen schien jetzt richtig in Fahrt zu kommen. Lag es an der steigenden Temperatur, dass sie allmählich müde wurde? Die Sonne hatte nun allen Dunst weggebrannt, und die Luft hatte sich merklich aufgewärmt.
    Immer öfter blieb Anja stehen, um über der monotonen Arbeit nicht zu vergessen, durch was für einen wunderschönen Wald sie heute gehen durfte. Dieser Leybachforst war kein gewöhnlicher Forst. Es lag jede Menge Totholz herum, ein klares Anzeichen dafür, dass hier schon lange keine intensive Forstnutzung mehr stattfand. Ja, im Grunde war der Forst gar kein Forst, sondern auf dem Weg, wieder ein richtiger Wald zu werden: verwahrlost und verwunschen, mit stehengelassenen Käferbäumen und verrottendem Sturmholz. Ein vor langer Zeit verwester und fast gänzlich mumifizierter Kuhkadaver steckte grotesk verdreht im Wurzelstock einer umgestürzten Buche, und Anja konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie das Vieh sich dort verfangen hatte. Aber vor allem stieß sie auf Pflanzengesellschaften und Vegetationsformen, die in einem straff bewirtschafteten Gemeinde- oder Staatswald in dieser Form eher nicht vorkamen.
    Immer wieder hielt sie inne und nahm sich Zeit, die poetische Stille dieses vernachlässigten Durcheinanders zu genießen. Obermüllers Gehämmer hatte natürlich längst alle Tiere in der näheren Umgebung vertrieben, so dass sie kaum Vögel sah, geschweige denn sonst irgendein Tier, von denen es, aus dem Wildverbiss zu schließen, doch jede Menge geben musste. Aber schon die Bodenvegetation war interessant. Mauerlattich trat gehäuft auf. An den sonnigeren Stellen dominierte erwartungsgemäß die Waldhainsimse . Merkwürdigerweise stieß sie auch auf Heidelbeer matten, vermutlich das Ergebnis wiederholter Streuentnahme aus der Zeit, bevor dieser Wald in seinen Dornröschenschlaf verfallen war. Es gab
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