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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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überhaupt die Zeit oder eine Veranlassung, sich mit dieser Frage zu beschäftigen? Warum stand sie noch hier herum?
    Plötzlich war das pelzige Gefühl wieder da. Sie griff sofort in ihre Hosentasche, zog das Kortisonspray heraus, biss auf das Mundstück und atmete das Mittel so tief ein, wie sie konnte. Auf den Bohrstock gestützt, wartete sie, bis die Wirkung einsetzte. Der Krampf in ihren Lungen ließ augenblicklich nach. Aber nicht der in ihrer Kehle. Die war wie zugeschnürt. Sollte Herr Venner-Brock doch recht haben? Was suchte sie hier? Ein auffälliges Bodenprofil? Wartete sie nicht ständig darauf, dass ihr Papa zwischen den Bäumen auftauchen würde, um mit ihr nach Hause zu gehen? Stand sie deshalb hier und keuchte, weil die letzten, kümmerlichen Erinnerungen an ihn dort im Wald herumgeisterten? Die letzten Bilder von ihm, die letzten vagen Eindrücke? Am Vortag seines Verschwindens waren sie gemeinsam im Wald gewesen. In der Buchenschule. Er hatte ihr gezeigt, wie die alten Buchen ihren Nachwuchs erziehen, wie sie noch in hohem Alter ihre Blätterkrone plötzlich wieder wachsen lassen, um durch die Steuerung des Lichteinfalls am Boden Ordnung unter dem wild heraufschießenden Nachwuchs zu halten. Fast so, als hätten sie einen Willen, ein Bewusstsein.
    Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Keine drei Meter von ihr entfernt, den Lauf seines Gewehrs direkt auf ihren Kopf gerichtet, stand Xaver Leybach.

6
    R udolf Heinbichler rührte sich nicht. Mit angehaltenem Atem starrte er durch die Zweige hindurch auf die Lichtung. Was er sah, war grotesk. Xaver Leybach zielte aus nächster Nähe auf eine unbekannte junge Frau, die bis vor wenigen Minuten im Haingries Bodenproben gezogen hatte. Er hatte die Hammerschläge gehört und keine Mühe gehabt, sie zu finden. Fast hätte er sie angesprochen, aber dann war es ihm zunächst ein größeres Vergnügen gewesen, sie heimlich zu beobachten. So ein Anblick bot sich nicht alle Tage. Und jetzt das! Wo zum Teufel war der Xaver so plötzlich hergekommen? Wie aus dem Nichts war er hinter der Frau aufgetaucht, und als sie sich erschrocken umdrehte, hatte er das Gewehr hochgerissen.
    Heinbichler spürte, dass ihm der Schweiß in den Nacken lief. Sein Herz klopfte. Sollte er eingreifen, sich bemerkbar machen, bevor ein Unglück geschah? Aber was würde geschehen, wenn er jetzt auf die Lichtung hinausstürzte? Xaver war unberechenbar. Keiner konnte sagen, was im Kopf dieses Irren vor sich ging.
    Ein leichter Wind bewegte die Baumkronen und ließ die Zweige rascheln. Er könnte auch einfach unbemerkt davonschleichen.
    Im Grunde konnte es ihm ja gleich sein, was die Frau hier tat. Da war ja schon lange nichts mehr. Sollte die Forstverwaltung doch hier im Boden herumbohren. Es musste ja wohl die Frau sein, von der Grossreither gestern erzählt hatte. So weit war es also schon. Frauen in Forstämtern! Und dann auch noch im Außendienst. Immerhin war sie ganz ansehnlich.
    Jetzt sagte sie irgendetwas. Aber er konnte es nicht verstehen. Nerven hatte sie ja, das musste er zugeben. Er würde nicht so ruhig dastehen, wenn ein Depperter den Lauf eines durchgeladenen Drillings auf seinen Kopf gerichtet hätte. Sie sprach ganz ruhig auf ihn ein. Aber was sagte sie? Er schloss die Augen. Gleich gäbe es eine Katastrophe. Plötzlich war er sich sicher, dass es im nächsten Moment geschehen würde. Xaver würde abdrücken. Jetzt gleich, vor seinen Augen. Und was sollte er dann tun? Die Frau wäre sofort tot. Und er hätte die Wahl. Er könnte versteckt bleiben. Er könnte weglaufen. Oder er könnte selbst schießen. Er öffnete die Augen wieder. Die Frau sprach noch immer. Leise, behutsam, eindringlich. Und der Xaver? Stand unverändert da und zielte.
    Heinbichler raffte sich auf. Er konnte nicht zulassen, dass dieser Irre die Frau erschoss. Vorsichtig ließ er sein Jagdgewehr von der Schulter gleiten und legte an. Xavers verbissenes Gesicht erschien widernatürlich groß und grobkörnig in seinem Zielfernrohr. Diese Augen. Diese irren Augen. Aber er konnte Xaver doch nicht in den Kopf schießen! Er senkte den Lauf behutsam, bis das Fadenkreuz auf Xavers rechter Schulter angekommen war, genau an der Stelle, wo der Gewehrstock anlag. Sollte er jetzt abdrücken? Wie genau würde er auf diese Distanz treffen? Und wenn er die Frau traf? Xaver hatte den Finger am Abzug. Selbst wenn er ihn gut erwischte, würde Xaver möglicherweise noch aus allen drei Läufen feuern. Eine doppelte Schrotladung
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