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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
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er.
    Er nahm ihre Hand. Diesmal ließ sie es geschehen. Sie schwiegen lange, und gerade, als er etwas sagen wollte, klopfte es an der Tür. Er schaute hinüber und sah eine etwa dreißigjährige junge Frau das Zimmer betreten. Er sah sie zum ersten Mal, sie hatte ein paar Wunden im Gesicht – am rechten Augenbrauenbogen und Wangenknochen, eine üble Schnittwunde an der Stirn und Schatten unter den geröteten Augen. Ein weiteres Lawinenopfer?
    »Commandant Servaz?«
    Er nickte.
    »Ich bin Diane Berg, die Psychologin vom Institut Wargnier. Wir haben telefoniert.«
    »Was ist mit Ihnen passiert?«
    »Ich bin mit dem Auto verunglückt«, antwortete sie lächelnd, als wäre das etwas Komisches. »Ich könnte Sie das Gleiche fragen, aber weiß schon Bescheid.« Sie warf Margot einen Blick zu. »Kann ich einen Augenblick unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«
    Servaz sah Margot an, die ein schiefes Gesicht zog, die junge Frau musterte, aufstand und hinausging. Diane trat ans Bett. Servaz deutete auf den Stuhl.
    »Wissen Sie, dass Hirtmann verschwunden ist?«, fragte sie, während sie sich setzte.
    Servaz starrte sie einen Moment lang an. Dann schüttelte er trotz der Halskrause den Kopf.
Hirtmann auf freiem Fuß …
Sein Gesicht verdüsterte sich, und sie sah, wie sein Blick schwarz und hart wurde, als hätte jemand im Innern das Licht ausgemacht. Unterm Strich, so dachte er, war diese ganze Nacht nur ein einziges Desaster. Lombard mochte ein Mörder sein, aber gefährlich war er nur für eine Handvoll Verbrecher. Hirtmann dagegen wurde von etwas ganz anderem umgetrieben. Eine unkontrollierbare Wut brannte in seinem Herzen wie eine dunkle Flamme und sonderte ihn für immer von den anderen Menschen ab. Grenzenlose Grausamkeit, Mordlust und vollkommene Skrupellosigkeit. Servaz rieselte ein kalter Schauer über den Rücken. Was stand ihnen jetzt bevor, wo der Schweizer auf freiem Fuß war? Wenn er ohne Medikamente draußen unterwegs war, würden sein psychopathisches Verhalten, seine abartigen Triebregungen, sein Jagdinstinkt wieder erwachen. Diese Vorstellung ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Große perverse Psychopathen vom Schlage Hirtmanns trugen nicht die leiseste Spur von Menschlichkeit in sich – Folter, Vergewaltigung und Mord bereiteten ihm eine viel zu große Lust: Sobald sich dem Schweizer die Gelegenheit bot, würde er rückfällig werden.
    »Was ist passiert?«, fragte er.
    Sie schilderte ihm, was sich in der Nacht ereignet hatte – von dem Moment, als Lisa Ferney sie in ihrem Büro erwischt hatte, bis zu dem Augenblick, in dem sie sich auf dieser vereisten Straße auf den Weg gemacht hatte, den leblosen Hirtmann allein im Wagen zurücklassend. Sie war fast zwei Stunden lang gelaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und sie war völlig unterkühlt, als sie das erste Haus am Rand eines Dorfes erreichte. Als die Gendarmerie am Unfallort eingetroffen war, war das Auto leer; es gab Fuß- und Blutspuren, die zur Straße hinaufführten und sich dort verloren.
    »Jemand hat ihn aufgelesen«, bemerkte Servaz.
    »Ja.«
    »Ein Auto, das vorbeifuhr, oder … ein anderer Komplize.«
    Er wandte seinen Blick dem Fenster zu. Hinter der Scheibe war es stockfinster.
    »Wie haben Sie herausgefunden, dass Lisa Ferney Lombards Komplizin war?«, fragte er.
    »Das ist eine lange Geschichte, wollen Sie sie wirklich hören?«
    Er sah sie lächelnd an. Er spürte, dass sie, die Psychologin, mit jemandem reden musste. Es musste aus ihr heraus. Und zwar
jetzt
 … Es war der richtige Zeitpunkt, für sie und für ihn. Ihm wurde klar, dass für sie gerade alles genauso unwirklich war wie für ihn – und dieses Gefühl stammte aus dieser merkwürdigen Nacht voller Schrecken und Gewalt, aber auch schon aus den Tagen zuvor. Jetzt, allein in der Stille dieses Krankenhauszimmers, mit der Dunkelheit, die sich an die Scheibe drückte, waren sie zwar Fremde, einander aber sehr nah.
    »Ich habe die ganze Nacht Zeit«, antwortete er.
    Sie lächelte ihn an.
    »Tja«, fing sie an, »ich kam genau an dem Morgen in die Klinik, als dort oben das tote Pferd gefunden wurde. Ich erinnere mich noch ganz genau. Es schneite und …«

EPILOG
    C rimen extinguitur mortalite.
    [Der Tod löscht das Verbrechen aus.]
     
    Als Cäsar dies bemerkte, gab er der vierten Schlachtreihe, die er aus sechs Kohorten gebildet hatte, das vereinbarte Zeichen. Diese stürmten mit so großem Tempo vor und führten in Angriffsformation einen so heftigen
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