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Schwarzer Regen

Schwarzer Regen

Titel: Schwarzer Regen
Autoren: Karl Olsberg
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Finger geschlossen. »Hier, nimm sie!«
    »Nein, Omi, das darfst du nicht«, hatte Fabienne mit tränenerstickter Stimme gerufen. »Es sind deine Karten! Du musst sie behalten!«
    Ihre Großmutter hatte sanft gelächelt. »Ich habe mein Schicksal gesehen. Dort, wo ich hingehe, brauche ich sie nicht mehr.«
    »Aber … aber ich kann es doch nicht ohne dich!«
    »Doch, mein Schatz. Du hast die Gabe von mir geerbt, so wie ich sie von meinem Großvater geerbt habe. Dein Vater hat sie auch, aber er wollte nie etwas davon wissen. Die Wahrheit ist eine dornige Blume, aber man muss sie pflücken, sonst entsteht großes Unglück!«
    Ihre Großmutter hatte Fabienne schon als Kind alles beigebracht, was sie über Tarot wusste. Zu Anfang war es nur ein Spiel gewesen, doch als sie vierzehn wurde, hatte |40| Fabienne zum ersten Mal gespürt, dass die Bilder ihr tatsächlich etwas sagten.
    Ihr Vater war zu DDR-Zeiten ein hochrangiger Verwaltungsbeamter in Berlin gewesen. Ihre Mutter hatte er während einer diplomatischen Mission in Mittelamerika kennengelernt und sie nach Ostdeutschland mitgenommen, wo sie eine steile Karriere als Tänzerin und Sängerin gemacht hatte. Im Zuge des Zusammenbruchs der DDR war er auf nie ganz geklärte Weise zu einem kleinen Vermögen gekommen. Nach der Wende hatte er sein Geld in einen Autohandel investiert.
    An jenem Tag – Fabienne hatte eigentlich nur wissen wollen, ob ihr damaliger Freund ihr treu bleiben würde – hatten die Karten ihr einen dramatischen Umbruch in ihrem Leben vorausgesagt. Auf eine seltsame Weise hatte sie gewusst, was passieren würde: Ihr Vater würde sein Vermögen verlieren, ihre Mutter sich von ihm trennen, er würde dem Alkohol verfallen und in einen Strudel stürzen, aus dem er sich nie mehr würde befreien können.
    Und so war es gekommen.
    Fabienne hatte die Bilder in ihrem Kopf nicht wahrhaben wollen. Sie hatte sie ignoriert, verdrängt. Doch als sie zwei Tage später spürte, wie angespannt ihr Vater war, wenn er aus dem Geschäft nach Hause kam, hatte sie ihm davon erzählt. Er hatte sie ausgelacht und zornig seine Mutter angerufen, ihr Vorwürfe gemacht, dass sie seiner Tochter esoterische Flausen in den Kopf setze. Er hatte Fabienne verboten, jemals wieder Tarotkarten zu legen. Er hatte wohl geahnt, dass die Karten recht hatten.
    Zehn Jahre später war er gestorben, hatte sich einsam in einer kleinen Sozialwohnung zu Tode gesoffen. Fabienne hatte weder ihrer Mutter noch sich selbst jemals verziehen, dass sie ihn allein gelassen hatten.
    Seit damals hatte sie die Karten mit großem Respekt behandelt |41| und sie nur selten benutzt. Einmal hatten sie ihr gesagt, dass ihr damaliger Freund sie betrog – sie hatte daraufhin mit ihm Schluss gemacht. Als sie ihren späteren Mann Hans kennenlernte, hatten die Karten sie vor einer Enttäuschung gewarnt, doch sie hatte die Warnung ignoriert.
    Hans hatte sich immer über die Karten lustig gemacht, und sie hatte sich bald nicht mehr getraut, sie zu legen. In der schmerzhaften Phase ihrer Trennung hatte sie sich so sehr vor dem gefürchtet, was die Karten ihr mitteilen würden, dass sie das Kästchen tief in der untersten Schublade ihrer Schlafzimmerkommode vergraben und irgendwann vergessen hatte.
    Bis heute.
    Die Erinnerungen lasteten schwer auf ihr, als sie mit zitternden Fingern die mittlere Karte umdrehte.
    Der Tod. Grimmig ritt er in schwarzer Rüstung auf seinem Schimmel über die Leichen der Vergangenheit, während die Menschen in Demut vor ihm niederknieten. Es gab unter den 78 Karten des Tarotdecks keine, die besser zu Yvis Verschwinden gepasst hätte.
    Nora machte ein erschrockenes Gesicht. »Was … was bedeutet das? Heißt das … Yvi ist tot?«
    Fabienne lächelte. »Nein, nein. Der Tod kennzeichnet einen Verlust, etwas Einschneidendes, aber auch die Lösung von bestehenden Bindungen. Das kann durchaus etwas Positives bedeuten. Die Karte in der Mitte symbolisiert das Jetzt, die Ausgangslage. Yvi ist verschwunden, mehr sagt sie uns nicht.«
    Nora wirkte nicht gerade beruhigt. »Mach weiter.«
    Fabienne deckte die linke Karte auf, die Vergangenheit.
    Der Narr. Ein buntgekleideter Wanderer, der munter auf den Abgrund zuschritt, das Gesicht dem Himmel zugewandt, das warnende Gebell seines Hundes ignorierend. Unbeschwertheit und Lebensfreude. Leichtsinn.
    |42| Ihre Hand glitt zur rechten Karte, der Zukunft. Doch sie zuckte zurück und drehte stattdessen die untere Karte um – die Wurzel, den Grund für die
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