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Schuldlos ohne Schuld

Schuldlos ohne Schuld

Titel: Schuldlos ohne Schuld
Autoren: Kjell-Olof Bornemark
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anderen Nachbarn erfahren, dass sie sich über ihn beschwert hat und will, dass er auszieht. »Wir können solche Leute nicht in unserem Haus gebrauchen.« Dabei hat er weder sie noch einen anderen Nachbarn je gestört. Man hört nie ein Geräusch aus seiner Wohnung. Manchmal glaubt Martin, dass auch der verschüchterte Mann, mit dem die Nachbarin verheiratet ist, am liebsten hier ausziehen würde. Allein.
     
    Er spürt es langsam in den Beinen. Martin hat nicht geruht, seit er vor dem Gewerkschaftshaus den Bus verließ. Da war es sieben Uhr abends, und als er in die City kam, leerten sich bereits die Straßen von Menschen. Die einfachen Leute waren auf dem Weg nach Hause, und die Autoschlangen lösten sich langsam auf. Die bleichen Schwindler und heimtückischen Hooligans der Nacht hatten sich noch nicht auf die Straßen begeben. Nun sind fünf Stunden vergangen, und das Thermometer zeigt minus acht Grad. Man spürt die Kälte an den Ohrläppchen, und es ist Zeit, an den Heimweg zu denken.
    Martin ist eine lange Strecke gewandert. Zuerst die Straße im Zentrum hinauf und hinunter, über die Plätze und durch die finsteren Parks. Dann über Kopfsteinpflaster und durch enge Gassen der Altstadt. Nun ist er ein gutes Stück von der Innenstadt in ein Viertel geraten, das er kaum kennt. Er steht an ein Brückengeländer gelehnt und sieht auf eine der Durchfahrtsstraßen hinunter, ein doppelter, dreispuriger, brutaler Schnitt durch die Häusermassen. Die Autos fahren in beide Richtungen wie glotzäugige Käfer, und er fragt sich, wohin all die Menschen eilen. Welche Geschäfte haben sie zu erledigen? Es muss etwas Wichtiges sein, da sie einander zu wütenden Zweikämpfen reizen, obwohl es Platz für alle gibt. Niemand von ihnen gönnt sich die Zeit zur Entspannung. Alle haben Angst, zu spät zu kommen. Martin lächelt versonnen und nachsichtig. Er glaubt zu verstehen. Die meisten von ihnen haben überhaupt kein Geschäft zu erledigen. Kein anderes Geschäft, als sich selbst und allen anderen zu entkommen. Deshalb ist es so wichtig, der erste zu sein und nicht eingeholt zu werden.
    Welches Geschäft hat er selbst an diesem Abend zu erledigen? Welche Absicht steht hinter diesem Ausflug? Erst jetzt beginnt er zu begreifen. Sein Ziel ist es gewesen, die Stadt herauszufordern, aber trotz all seiner Versuche hat sie sich nicht herausfordern lassen. Noch nicht.
    Die Menschen, denen er auf dem Bürgersteig oder in den Gassen begegnete, sind ihm die ganze Zeit ausgewichen. Während dieser Hunderte sekundenschneller Begegnungen, die so rasch vergessen werden, wie sie sich ereignen, hat er in den Augen der Entgegenkommenden Furcht und auch ängstliche Vorsicht lesen können. Manchmal auch Ärger oder Gleichgültigkeit, nie aber offene Missachtung. In gewisser Weise hat er eine Bestätigung dafür bekommen, was er gesucht hat. Es ist etwas mit ihm geschehen, und die Veränderung ist für alle sichtbar. Er ist nicht länger irgendwer oder jemand, der noch weniger wert ist als irgendwer. In den Augen der anderen hat er gesehen, dass er zu einem Gleichgestellten erhöht worden ist, auch wenn er begreift, dass er deshalb noch kein Gleichberechtigter geworden ist. Aber er hat sein Ziel erreicht – nach all den Jahren der Erniedrigung und Geringschätzung. Dennoch empfindet er keine allzu große Freude oder Befriedigung darüber. Das Wenige, das er an diesem Abend erlebt hat, ist einfach nicht genug, ist nicht wirklich entscheidend. Es muss mehr, viel mehr sein.
    Eine eigentliche Konfrontation oder Herausforderung hat er auch nicht erlebt. Nur einige Ansätze, nicht viel mehr. Martin erkennt, dass dies an ihm selbst liegt. Er ist noch nicht in die Rolle hineingewachsen. Er ist sich nicht einmal klar, wie diese aussieht. Andererseits ist er auch nicht weggelaufen und hat sich versteckt. Er ist niemandem ausgewichen, ist bei keiner Begegnung zur Seite getreten. Das ist nicht völlig richtig. Technisch gesehen hat er aus Sicherheitsgründen bei jeder Begegnung den Körper gedreht und die rechte Seite nach vorn geschoben. Nicht einmal streifen darf jemand sein Geheimnis.
    Es ist eng auf den Gehwegen, und ein Entgegenkommender dreht den Körper, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. So wenig bedarf es, und schon fasst ein Mitmensch die Bewegung als ein Zeichen der Friedfertigkeit auf.
    Im Park vor der Kneipe bei der Oper war Martin vor einigen Stunden auf dem Weg hinunter zum Wasser gewesen. Schon aus zwanzig Schritten Abstand wusste er, dass
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