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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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ins Wasser steigst.
    Könnte ich mich verdoppeln und mir selbst gegenüberstehen. Könnte ich mich auffalten wie Schmetterlingsflügel. Ich würde mich ansehen, wie du mich ansehen kannst. Ich würde mich berühren, wie du mich berühren kannst. Ich würde meine Schultern fassen, meine Hüften, die Festigkeit der Knochen fühlen, die Weichheit der Haut, würde mit meiner Zunge nach meiner Zunge suchen, Schmollmund auf Schmollmund. Aber ich kann es nicht. Ich gehe zur Badtür. Ich höre dich plätschern. Ich lege meine Hände auf die Tür.
    »Was ist deine Hemdgröße?«, frage ich.
    Ich höre dein unterirdisches Lachen. Ich muss an Peter Pan denken, an deine Red Russians und das Klappmesser. Ich öffne die Tür.

Kirschkerne
    Als stummer Schrei, der mein Herz reinwäscht, es poliert, mit glühenden Fingern, strömt aus meinen Lungen die Sehnsucht vieler Wochen, steigt durchs Dach und teilt den Himmel mit den Schwalben.
    Meine Hände wandern benommen über deine nasse Brust. Erst jetzt spüre ich, dass das Wasser kalt geworden ist. Meine Fingerspitzen haben sich vor Nässe in Falten gelegt. Ich steige aus der Wanne und wische zwei Badewasserpfützen vom Schachbrett des Bodens. Dein Sperma wirbelt als kleiner Cirrus durch den Abfluss. Ich lasse dich damit allein.
    Auf der Dachterrasse weht ein leichter Wind. Er streicht durch meinen Bademantel, ein Anflug von Fernweh. Wolken schiffen in raschem Tempo über den Himmel. Auf einem Nachbarbalkon gießt eine junge Frau ihre Blumen. Das gelbe Tuch, das sie im Haar trägt, ist das einzig Auffällige an ihr. Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, verschwindet sie in ihrer Wohnung. Ich beschließe, nicht ins Bett zu gehen, um meinen Schlafrhythmus nicht komplett auf den Kopf zu stellen. Ich werde Kaffee kochen und bis zum Abend durchhalten.
    In der Küche finde ich einen Zettel von Borg. Bitte Tomaten, Milch, Reis, Streichhölzer einkaufen. Der Zettel stammt von einem Kleeblattblock und hat gewellte Ränder. Borg muss beim Schreiben nasse Finger gehabt haben. Die Kaffeedose ist leer. Ich schlüpfe in ein Paar Turnschuhe und schiebe meine Sonnenbrille auf die Nase.
    Die Stadtbahn gleist, willig beschleunigend, an einer Häuserreihe mit frischer dunkelroter Tünche vorbei. Durch die getönten Scheiben und die Brillengläser ist alles doppelt dunkel. Gut so, denke ich. Meine Sinne sind für jede Dämpfung dankbar. Die Müdigkeit näht mich in Schichten schweren Seidenbrokats ein, und jeder Reiz dringt wie ein verirrter Stich von außen durch. Das Geschepper einer Schlüsselkette am Sitz, der Ellbogenstoß von rechts, der Schnapsgeruch aus einem grünen Parka.
    Zwei tratschende Frauen steigen zu. Ihr Gerede hängt wie ein Radioprogramm in der Luft. Alle hören unwillkürlich zu. Nur einer empfängt nicht. Hält die Augen geschlossen, hat sein eigenes Programm, einen großen Kopfhörer auf, eine Schwedenflagge auf der Brust und tiefe Augenringe. Von seiner Musik ist ein rhythmisches Wispern zu hören, das dann und wann aussetzt. Ihm gegenüber sitzen zwei kleine Mädchen und beobachten ihn. Als er einnickt und seitlich in den Sitz sinkt, verrutscht sein Kopfhörer. Als schließlich der Mund des Schweden sich öffnet, große Schneidezähne, Speichelfaden, können die Mädchen gar nicht mehr wegschauen. Er hat sie, schlafend, völlig in seinem Bann. Erst als der Kopfhörer ganz von seinen Ohren rutscht, schreckt der Mann hoch. Er stopft ein wenig an seinem Shirt herum. Die Kinder schauen mich an, als erwarteten sie eine Auskunft über den Mann. Ich lächle nur. In meinem Kopf beginnt eine Musik zu spielen, vermessen, sorglos und brillant.
    Supermärkte wecken in mir immer den Wunsch, Unfug zu treiben. Ich esse ein paar Kirschen aus einer Obstkiste. Zwei Kameras nehmen alles auf. Aber niemand kommt, niemand weist mich zurecht. Ich lasse die Tiefkühlregale links liegen, lese im letzten Korridor in Billigbüchern und Lifestylemagazinen. Ich gehe zurück zum Obst und esse noch eine Kirsche. Mit Tomaten, Milch und Reis, Streichhölzern und Kaffee, Tiefkühlkuchen und einer weiteren Handvoll Kirschen im Gepäck verlasse ich schließlich den Laden.
    Ich sehe mich um, ob die kleinen Mädchen noch irgendwo zu sehen sind. Sie waren mit mir aus der Stadtbahn gestiegen, hatten sich an dem erschöpften Schweden vorbeigedrückt, peinlich bedacht, ihn nicht zu berühren. Eins der Mädchen hatte sich, den kecken Schulterblick von Fotomodellen imitierend, auf der Straße noch mal nach mir
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