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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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holländische Gemälde erinnerte.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Die Wohnräume mit ihren auf den Hinterhof hinausgehenden Fenstern waren kärglicher. Die Küche hatte man in den entferntesten Winkel verbannt, um den Geruch kochenden Kohls von den Patienten fernzuhalten. Die Räume waren hoch – im heißen Sommer ein wertvoller Luxus –, und in der Küche gab es ein Zwischengeschoss für unsere alte Köchin Boniusiowa.
    Wir trugen maßgefertigte Schuhe – ein Zeichen von Wohlstand, aber nur in Relation zur sprichwörtlichen Armut des Schusters. Als Vater nach Paris aufgebrochen war, musste Boniusiowa gehen, und die nicht zur Straße liegende Hälfte der Wohnung wurde untervermietet. Mutter und Söhne zogen in den früheren Warteraum um, die wenigen Patienten, die warten mussten, wurden in die neu eingerichtete Eingangshalle umquartiert.
    Das ziemlich große Badezimmer war sehr wichtig. Warschaus Schmutz hinterlassende Pferde, Staub und Dreck entsprachen nicht Mutters Gesundheitsnormen. Also mussten Léon und ich uns ständig die Hände waschen. Jedes Mal, wenn wir in der heißen Sommersaison aus dem Park kamen, zogen wir uns aus und duschten eiskalt. Während der großen Depression – lange vor jeder Krankenversicherung – liefen die Geschäfte fürchterlich schlecht. Patienten kamen erst, wenn der Schmerz unerträglich wurde – mit einer erinnerungswürdigen Ausnahme. Eines Morgens um 7 Uhr läutete es an der Tür. Ein junger Mann trat ein, der einen überwältigenden Gestank nach frischen Mist um sich verbreitete. Er entschuldigte sich, weil er direkt vom Schlachthaus kam, wo er seine Fracht abgeliefert hatte. Er erklärte, seine Liebste wolle ihn nicht küssen, weil all seine Zähne verfault seien und er aus dem Mund röche. Er wollte alles gerichtet haben, hatte ausreichend Geld dabei und brachte außerdem ein wenig frisches Fleisch mit. Nach seinen Besuchen musste die Wohnung immer gründlich gelüftet werden – es waren sehr harte Zeiten. Für eine Weile halfen die Wünsche der Liebsten eines Patienten, viele Rechnungen zu bezahlen.
    Von den Erinnerungen an die frühe Kindheit sind nur wenige genau zu datieren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich immer noch auf endlosen Spaziergängen durch Warschau und beim Spielen in einem seiner schönen Parks. Ogrôd Saski – der Sächsische Garten – war eine Huldigung an August den Starken, den König von Sachsen und gewählten König von Polen.
    Ich erinnere mich auch an meine Einweihung in das Geheimnis des Geldwerts. Ich bemerkte oder wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ein Kilogramm Bauernkäse einen Zloty kostete, was »Silbermünze« bedeutet und der Name der polnischen Währung war. Ein Kilogramm Butter dagegen kostete weit mehr. Auch die Preise für Obst variierten, da die Qualität von perfekt bis verfault reichte. Das heißt, lange bevor ich vom Goldstandard hörte, hatte ich mich auf den Standard des Bauernkäses verlassen.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Eines Sommers kam Szolem mit seiner Verlobten, Tante Gladys, nach Warschau. Sie konnten nicht bei uns wohnen, weil Bruder Léon und ich wegen Scharlach – der einzigen Kinderkrankheit, vor der Mutter uns nicht hatte bewahren können – in Quarantäne waren. Ich sehe es noch genau vor mir, dass sie – vielleicht auch nur Onkel Szolem allein – aus der Entfernung beobachteten, wie Léon und ich eine fröhliche Kissenschlacht ausfochten. Als frühestes Datum kommt der Sommer 1927 infrage. Das vorangegangene Foto stammt von 1929 und zeigt zwei gesunde Brüder, weshalb ich vermute, dass es 1928 war.

Erste Stufe einer ziemlich eigentümlichen Erziehung
    Flüssiges Lesen und Schreiben erlernte ich früh und mühelos – weshalb es keine bleibende Erinnerung hinterließ. Die polnische Rechtschreibung ist angeblich phonetisch und einfach, aber das ist natürlich nicht richtig; dennoch kann ich mich nicht an irgendwelche Probleme erinnern. Meine nächste Erinnerung ist mit einem tief eingeprägten Datum verbunden. Ich sehe noch vor mir, wie ich einen Brief mit dem Datum Januar 1929 zu schreiben begann, als mir klar wurde, dass das alte Jahr gegangen und das neue gekommen war, worauf ich 1929 in 1930 änderte. Da war ich fünf Jahre und ein paar Wochen alt und viel zu jung für die Schule. Sogar jetzt passiert es mir manchmal, dass ich beim Verfassen dieser Erinnerungen ein Datum mit 19.. statt mit 20.. beginne.
    Jener Brief wurde nicht zu Hause geschrieben, und es war der sanfte und
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