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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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einen] genialen Mathematiker, der mir die Mathematik offenbarte. Er sagt, dass sie der Poesie gleicht, dass man mathematische Schönheit erfindet und dass wahre Mathematiker sich niemals mit dem bloßen Rechnen abgeben. Diejenigen, die bedeutsame und umwälzende Formeln ersinnen, erneuern die Wissenschaft und haben keinerlei Ähnlichkeit mit Rechnungsbeamten. Dieser Mann ist Pole und ein Genie; er spaziert mit Empfehlungsschreiben der größten Wissenschaftler der Welt herum und zeigt sie mit kindlichem Stolz vor. Er ist verliebt, blond, radikal und hat die allerschönsten Augen. Zeichnen kann er ebenso genial und hat doch nie Zeichnen gelernt. Gelegentlich wird er auf verrückte Weise fröhlich und schildert Menschen mit bewundernswerter satirischer Schärfe. Er ist zwar Pole, hat aber etwas Tirolerisches (la-la-la-juhu) und lässt mich an Offiziere denken, die im Kaukasus Duelle ausfechten … Ich glaube, er ist ein überaus gutmütiger Charakter und zu unerhörter Gewalt imstande, wenn man ihn dazu zwingt, doch es kann sein, dass nur die Sprache » gewaltsam « ist.
    Die letzten Worte lassen erkennen, dass Marcel Jouhandeau ein gutes Urteil hatte. Er hätte noch anmerken können, dass Szolem die Mathematik sorgfältig von Bildern getrennt hielt. Ich dagegen habe Mathematik und Bilder gemeinsam arbeiten lassen und großen Nutzen daraus gezogen – ein Unterschied, der zum Zankapfel zwischen uns werden sollte.
    Szolems Auftritt passte zeitlich perfekt – ebenso wie meiner eine Generation später bei IBM während der Blütezeit des Unternehmens als wissenschaftliches Kraftwerk. Nach dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs erkannten Hadamard und Paul Montel, wie dringend neue Kräfte benötigt wurden; sie waren höchst erfreut, einen Nachfolger zu finden, der ihren eigenen Interessen so nahestand. Deshalb wurde Szolem weder als Konkurrent empfunden noch als Jude oder Ausländer diskriminiert, sondern mit offenen Armen empfangen. Später strömten viele Ausländer nach Paris, die Konkurrenz wurde wieder härter, und die Diskriminierung kehrte zurück. Wie Poincaré, Hadamard und lange vor ihnen Isaac Newton betrachtete auch Szolem die Mathematik als beinahe real, allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Erstere waren fasziniert von tiefen Fragen der Physik und der eigentlichen Realität, Szolem dagegen nicht.
    Er befreundete sich mit einem jungen Kollegen, dem brillanten, umtriebigen André Weil (1906–1998), der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zum Gründer und starken Anführer einer neuen Generation französischer Mathematiker werden sollte. Szolem wurde aufgefordert, sich Weils Kreis anzuschließen, und man gründete einen mathematischen »Geheimkult«, der sich »Nicolas Bourbaki« nannte. Der ursprüngliche Titel ihres Buches Les structures fondamentales de l’analyse (Die grundlegenden Strukturen mathematischer Analysis) zeigt ihre Erwartung, dass die Analysis zu den von Bourbaki »gebilligten« Gegenständen gehören würde.
    Doch dem war nicht so. Szolem, der die Zeit des Zweiten Weltkriegs in den USA verbracht hatte, kehrte danach nach Paris zurück. Bourbaki hatte an Einfluss gewonnen, war aber zugleich engstirnig und dogmatisch geworden, was Onkel Szolem in eine unangenehme Lage brachte. Seine Flucht aus dem polnischen Elfenbeinturm hatte ihn überleben lassen, aber nur um nun in diese französische Enge zu geraten. Wenn man ihn danach fragte, versuchte er zwischen Abstraktion um ihrer selbst willen und Abstraktion um der Zukunft willen zu unterscheiden – eine Differenzierung, die ich nicht zu teilen vermochte. Persönlich war er seinen Freunden von Bourbaki stets dankbar für die frühe Gastfreundschaft und Hilfe, und er beugte sich ihren Vorlieben, wenn seine Stimme gebraucht wurde. Doch der Konflikt zwischen seiner wahren Liebe und seinen Freundschaften blieb bis an sein Lebensende bestehen. Er gehörte in den alten Elfenbeinturm – eine Tatsache, die für mich eine große Rolle spielen sollte.
    Eine letzte Anmerkung: Trotz seiner tiefen Hingabe an die Mathematik fand Szolem genügend Muße, sich mehreren Gruppen der literarischen und politischen Avantgarde im Paris der »Roaring Twenties« anzuschließen. Er freundete sich mit anderen talentierten Einwanderern an, welche die in Osteuropa entzündeten inneren Flammen hüteten, aber er passte sich auch sehr schnell an französische Verhaltensweisen an und wich bald stark von der Gruppe der Immigranten ab. Jene Freunde veröffentlichten kurzlebige
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