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Schneewittchen-Party

Schneewittchen-Party

Titel: Schneewittchen-Party
Autoren: Agatha Christie
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denke ich schon viel zu oft, dass ich Bescheid weiß, dass ich immer Recht habe. Und dabei kann ich mich völlig irren. Denn Sie sehen ja, wenn er jetzt auch umgebracht worden ist, war ja alles ganz anders. Er muss in die Bibliothek gegangen sein, und er muss sie dort gefunden haben – tot –, und er hat einen wahnsinnigen Schreck bekommen und hat Angst gehabt. Und deshalb wollte er aus dem Zimmer hinaus, ohne gesehen zu werden, und ich nehme an, er sah hoch und bemerkte mich, und deshalb ist er ins Zimmer zurückgegangen und hat mit dem Herauskommen gewartet, bis die Diele leer war. Aber nicht, weil er sie umgebracht hatte. Nein. Nur vor Schreck, weil er sie gefunden hatte.«
    »Und trotzdem haben Sie nichts gesagt? Sie haben nicht erwähnt, wen Sie gesehen hatten, auch nachdem das tote Kind gefunden worden war?«
    »Nein. Ich – ich konnte es nicht. Er ist – sehen Sie, er ist noch so klein – war noch so klein, muss man jetzt wohl sagen. Zehn. Ich hatte das Gefühl, dass er noch gar nicht wissen konnte, was er getan hatte. Er muss moralisch nicht verantwortlich gewesen sein. Er war immer schon ziemlich seltsam, und ich dachte, er könne geheilt werden. Ich wollte es nicht der Polizei überlassen. Er sollte nicht in ein staatliches Heim geschickt werden. Ich dachte, man könne ihn, wenn nötig, psychotherapeutisch behandeln lassen. Ich – ich habe es gut gemeint. Sie müssen mir glauben, dass ich es gut gemeint habe.«
    Was für ein trauriger Ausspruch, dachte Poirot, einer der traurigsten auf der Welt. Mrs Drake schien seine Gedanken zu lesen.
    »Ja«, sagte sie, »›ich habe es zu seinem Besten getan‹, ›ich habe es gut gemeint‹. Man denkt immer, man weiß, was das Beste für andere Leute ist, aber man weiß es nicht. Denn der Grund für sein merkwürdiges Aussehen muss entweder gewesen sein, dass er gesehen hatte, wer der Mörder war, oder dass er etwas bemerkt hatte, aus dem man auf den Mörder schließen konnte. Jedenfalls etwas, was dem Mörder das Gefühl gab, nicht mehr sicher zu sein. Und also – also hat er gewartet, bis er den Jungen mal allein erwischen konnte, und hat ihn dann im Bach ertränkt, damit er nichts mehr sagen konnte. Wenn ich doch nur was gesagt hätte, wenn ich es doch nur Ihnen oder der Polizei erzählt hätte oder irgendjemand, aber ich dachte, ich wüsste es besser.«
    »Erst heute«, sagte Poirot, nachdem er einen Augenblick schweigend dagesessen und Mrs Drake betrachtet hatte, die versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, »erst heute hat man mir erzählt, dass Leopold in letzter Zeit sehr gut bei Kasse war. Jemand muss ihm Schweigegeld gegeben haben.«
    »Aber wer – wer?«
    »Das werden wir bald wissen«, sagte Poirot. »Es dauert nicht mehr lange.«

22
     
    E s war eigentlich nicht Hercule Poirots Art, andere um ihre Meinung zu fragen. Er war im Allgemeinen mit seiner eigenen Meinung sehr zufrieden. Trotzdem gab es Fälle, bei denen er eine Ausnahme machte. Dies war einer davon. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Spence setzte er sich mit einem Mietwagenunternehmen in Verbindung, und nach einer zweiten Unterhaltung, an der auch Inspektor Raglan beteiligt war, fuhr er davon. Er hatte den Chauffeur angewiesen, nach London zu fahren, aber vor der Schule ließ er anhalten, sagte dem Chauffeur, dass es nicht lange dauern würde, und ließ sich dann zu Miss Emlyn führen.
    »Verzeihen Sie, dass ich Sie zu dieser Stunde störe. Wahrscheinlich sind Sie gerade beim Abendessen.«
    »Nun, ich bin davon überzeugt, Monsieur Poirot – und nehmen Sie das bitte als Kompliment –, dass Sie mich niemals ohne guten Grund beim Abendessen stören würden.«
    »Sie sind sehr liebenswürdig. Um es ganz offen zu sagen, ich brauche Ihren Rat.«
    »So?«
    Miss Emlyn sah überrascht aus. Sie sah mehr als überrascht aus, nämlich skeptisch. »Das scheint mir aber nicht sehr typisch für Sie, Monsieur Poirot. Kommen Sie nicht im Allgemeinen recht gut mit Ihrer eigenen Meinung aus?«
    »Ja, aber es würde mich beruhigen und in meiner Meinung bestärken, wenn ich wüsste, dass sie von jemand, dessen Urteil ich respektiere, geteilt wird.«
    Sie sagte nichts, sondern sah ihn nur fragend an.
    »Ich weiß, wer Joyce Reynolds ermordet hat«, sagte er. »Und ich bin der Überzeugung, dass Sie das auch wissen.«
    »Das habe ich nie gesagt«, wandte Miss Emlyn ein.
    »Nein. Gesagt haben Sie es nicht, und das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass Sie bis jetzt nur annehmen, es zu
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