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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Autoren: Holger Witzel
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Schnauze, Ludger!

»Die Firma Porsche machte 2008 mehr Gewinn als Umsatz.«
    aus NEON, UNNÜTZES WISSEN Heft 6/2009
     

Aufbau West in Peine
     
    Immer öfter wird auch für den Westen eine Art Solidaritätszuschlag gefordert. Völlig zu Recht, so wie es dort aussieht und die Menschen leben müssen. Eine Schande, 66 Jahre nach dem Krieg.
     
    Da sitze ich nun in einem schäbigen Hotel in Peine und frage mich einmal mehr, was einem an diesem Westdeutschland noch vor wenigen Jahren so attraktiv vorkam. Eine gewisse Freiheit, klar, die D-Mark natürlich und der dicke Quelle-Katalog – all diese kurzfristigen Lockangebote, die es nun auch schon lange nicht mehr gibt. Aber sonst? Ich meine: Wollte ich jemals nach Peine? Sind wir dafür um den Leipziger Ring gelatscht?
    Der Minibar-Kühlschrank brummt wie ein sowjetischer Panzer. Die Dusche kann nur kalt oder kochend heiß und regelt das selbstständig. Bei der naiven Frage nach W-LAN lacht der Inder an der Rezeption hysterisch auf. Vermutlich hat er sich vom Westen und seiner Greencard ebenfalls mehr versprochen. Eine leere Batterie in der Fernbedienung fesselt mich schließlich vor einer Sendung namens Frauentausch , in der eine polnische Rheinländerin mit Putzfimmel per »Videobotschaft« über die Schlampenwirtschaft einer Hausfrau aus dem Allgäu schimpft. Und das alles für 80 Euro ohne Frühstück!
    Oft und zunehmend lauter wird auch für die abgenutzten Bundesländer eine Art Solidaritätszuschlag West gefordert, und immer, wenn ich mal wieder dort sein muss, bin ich unbedingt dafür. Es ist eine Schande, wie die Brüder und Schwestern da drüben leben müssen. Jeder Feldweg in Brandenburg hat weniger Löcher als beispielsweise die Autobahn 7. Rechts und links davon siechen verwahrloste Innenstädte vor sich hin. Ihre Fußgängerzonen sehen alle gleich aus. So etwas wie Denkmalschutz kann es noch nicht gegeben haben, als die Häuser vor 30 oder 50 Jahren das letzte Mal renoviert wurden. Adenauer-Charme und 80er-Jahre-Schick, dazwischen kaum Leben, bis auf ein paar dunkle Gestalten, die abends vor Fastfood-Läden Streit suchen. Nach 21 Uhr ist in Peine nur noch Schmalhans oder McDonalds Küchenmeister. Und mir zahlt niemand eine Buschzulage für solche Dienstreisen!
    Was es von dort zu berichten gibt, ist meistens auch nicht erfreulicher: Mal schickt man mich in ein altes Salzbergwerk bei Wolfenbüttel, wo die besten Atommüll-Experten Westdeutschlands jahrzehntelang an einer sicheren Endlagerung bastelten, bis die radioaktive Brühe wieder aus den Wänden lief, mal in den Odenwald, wo die besten Pädagogen Westdeutschlands viele Jahre unbehelligt Internatsschüler vergewaltigten, mal nach Fürth zu Quelle, wo die besten Manager Westdeutschlands mitten im Zeitalter des Versandhandels den größten Versandhandel der Welt ruinierten. Nach ihren Millionen-Abfi ndungen war für Tausende Mitarbeiter nichts mehr übrig und das alte Märchen von der sozialen Marktwirtschaft über Nacht vorbei. Dass viele SED-Genossen genau so fest an die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« glaubten, tröstet in Nürnberg und Umgebung auch niemanden.
    Umweltsauereien, charakterlose Lehrer, kollektiver Selbstbetrug – so wie mir heute der Westen vorkommt, muss es Transitreisenden früher mit der DDR gegangen sein. Und genau wie damals Tante Erika aus Stuttgart mache ich jedes Mal drei Kreuze, wenn ich die Grenze wieder hinter mir lasse. Von West nach Ost – allein dafür hätte ich mir vor 25 Jahren selbst einen Vogel gezeigt. Wer konnte auch ahnen, dass der Todesstreifen zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachen so schnell seinen Schrecken verliert und sich dahinter ein neuer auftut, der mehrere hundert Kilometer breit über alle niedersächsischen Kleinstädte und das westfälische Ödland bis nach Holland reicht? Tante Erika empörte damals immer besonders, wie die Kommunisten das Land heruntergewirtschaftet haben. Inzwischen muss sie in ihrer Heimat Baden-Württemberg einsehen, dass es auch ohne geht.
    Vielleicht hätte man alle DDR-Bürger, bevor sie 1990 die D-Mark wählten, erstmal auf eine kleine Rundreise in den echten Westen schicken müssen, in die Eigenheimsiedlungen von Bocholt oder an den Stadtrand von Ulm. Wir kannten dieses sagenhafte Land ja nur von ersten Ausflügen zum Ku’damm oder aus dem Westfernsehen und wussten noch nicht, dass die auch lügen. In Wahrheit riecht es weder in Ludwigshafen noch in Köln nach Intershop oder Oma-Parfüm, sondern auch
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