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Schlaf

Titel: Schlaf
Autoren: Haruki Murakami
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aufgegessen hatte, öffnete ich das Papier der zweiten und aß die Hälfte. Nach ungefähr zwei Dritteln des ersten Bandes sah ich auf die Uhr. Es war zwanzig vor zwölf.
    Zwanzig vor zwölf?
    Gleich würde mein Mann nach Hause kommen. Überstürzt schlug ich das Buch zu und eilte in die Küche. Ich füllte Wasser in einen Topf und zündete das Gas an. Dann schnitt ich ein paar Schalotten und stellte die Soba zum Kochen bereit. Bis das Wasser kochte, weichte ich einige getrocknete Algen in Wasser ein und machte sie mit Essig an. Ich nahm Tofu aus dem Eisschrank und bereitete ihn in Würfeln geschnitten als Hiyayakko zu. Zum Schluss ging ich ins Badezimmer und putzte mir die Zähne, um den Schokoladengeruch loszuwerden.
    Fast im gleichen Moment, als das Wasser kochte, kam mein Mann zur Tür herein. Er sei früher als erwartet fertig gewesen, sagte er.
    Wir aßen zu zweit die Soba. Mein Mann erzählte von einem zahnmedizinischen Gerät, das er sich vielleicht anschaffen wolle, eine Maschine, mit der sich viel besser und auch schneller als mit allen herkömmlichen Geräten Zahnstein entfernen ließe. Das Gerät sei natürlich dementsprechend teuer, meinte er, aber es würde sich auszahlen. In letzter Zeit kämen immer mehr Leute nur, um sich Zahnstein entfernen zu lassen. »Was hältst du davon«, fragte er mich. Ehrlich gesagt hatte ich keine Lust, über Zahnstein nachzudenken, ich wollte beim Essen weder etwas darüber hören noch groß darüber nachdenken.
    Ich war in meinen Gedanken mit Wronskis Hindernislauf beschäftigt. Über Zahnstein wollte ich wirklich nicht nachdenken. Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Es war ihm ernst mit seiner Frage. Ich erkundigte mich nach dem Preis der Maschine und tat, als würde ich überlegen. »Du solltest es kaufen, wenn du es brauchst«, sagte ich. »Mit dem Geld wird das schon irgendwie klappen. Außerdem gibst du es ja nicht für irgendein Vergnügen aus.«
    »Das stimmt«, sagte er. »Ich gebe es nicht für irgendein Vergnügen aus«, wiederholte er meine Worte. Dann aß er schweigend weiter seine Soba.
    Auf dem Baum vor dem Fenster saßen zwei große Vögel auf einem Ast und krächzten. Ich sah ihnen gedankenverloren zu. Ich war nicht müde, kein bisschen müde. Wieso bloß?
    Während ich den Tisch abräumte, saß mein Mann auf dem Sofa und las Zeitung. Neben ihm lag »Anna Karenina«, aber er schien es nicht zu bemerken. Es interessierte ihn nicht, ob ich ein Buch las oder nicht.
    Als ich mit dem Abwasch fertig war, sagte mein Mann: »Ich habe noch eine nette Überraschung, rate mal, was.«
    »Weiß ich nicht«, antwortete ich.
    »Der erste Patient heute Nachmittag hat abgesagt. Ich habe also bis halb zwei frei.« Er lächelte.
    Trotz einigen Nachdenkens verstand ich nicht, was daran eine nette Überraschung sein sollte. Wieso kam ich nicht drauf?

    Erst als mein Mann aufstand und mich ins Schlafzimmer lockte, wurde mir klar, dass er mit mir schlafen wollte. Aber ich war absolut nicht in der Stimmung. Ich verstand überhaupt nicht, warum ich so etwas machen sollte. Ich wollte so schnell wie möglich zu meinem Buch zurück. Ich wollte allein auf dem Sofa liegen und Schokolade kauend »Anna Karenina« lesen. Beim Abwaschen hatte ich die ganze Zeit über Wronski nachgedacht und darüber, wieso es Tolstoi gelang, all seine Charaktere so vortrefflich zu führen. Tolstoi schrieb mit einer bewundernswerten Präzision. Doch genau dadurch war seinen Beschreibungen eine Erlösung verwehrt. Und diese Erlösung schließlich…
    Ich schloss meine Augen und presste die Finger gegen die Schläfen. »Tut mir leid, aber ich habe seit heute Morgen etwas Kopfschmerzen«, sagte ich, »wirklich nicht nett von mir.« Da ich manchmal unter ziemlichen Kopfschmerzen litt, akzeptierte mein Mann das ohne Weiteres. »Du solltest dich etwas hinlegen und ausruhen«, meinte er. »So schlimm ist es nicht«, erwiderte ich. Bis kurz nach eins saß er auf dem Sofa, hörte Musik und las Zeitung. Er redete weiter über medizinische Geräte. Man kaufe die modernsten und teuersten Geräte, aber nach ein paar Jahren seien sie schon wieder überholt. Dann müsse man wieder alles neu anschaffen. Die Einzigen, die davon profitierten, seien die Hersteller der medizinischen Geräte – diese Art von Gespräch. Hin und wieder bekundete ich meine Zustimmung, aber ich hörte kaum zu.

    Als mein Mann gegangen war, faltete ich die Zeitung zusammen und brachte die Sofakissen durch Klopfen wieder in ihre alte
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