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Schlaf

Titel: Schlaf
Autoren: Haruki Murakami
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mir das sehr seltsam. Seit meiner Kindheit war Lesen der Mittelpunkt meines Lebens gewesen. In meiner Grundschulzeit hatte ich jedes Buch aus der Bücherei verschlungen, und fast mein ganzes Taschengeld war für Bücher draufgegangen. Ich sparte sogar am Essen, um Bücher zu kaufen, die ich lesen wollte. In der Mittelschule und auch im Gymnasium gab es niemanden, der so viel gelesen hatte wie ich. Ich war die mittlere von fünf Geschwistern, meine beiden Eltern arbeiteten und waren sehr beschäftigt, sodass keiner aus meiner Familie mir groß Beachtung schenkte. Ich konnte allein vor mich hin lesen, so viel ich wollte. Ich bewarb mich immer bei den Aufsatzwettbewerben über Bücher, denn ich wollte die Buchgutscheine gewinnen. Meistens gewann ich sie. In der Universität studierte ich englische Literatur und hatte auch dort gute Noten. Meine Abschlussarbeit über Katherine Mansfield wurde mit der besten Note bewertet, und mein Professor empfahl mir, weiterzustudieren. Aber ich wollte damals raus ins Leben, und schließlich wusste ich selbst ganz genau, dass ich kein Wissenschaftler war. Ich las nur gerne Bücher. Und selbst wenn ich an der Universität hätte bleiben wollen, verfügte meine Familie doch nicht über die nötigen finanziellen Mittel, um mich promovieren zu lassen. Nicht dass wir arm gewesen wären, aber nach mir kamen noch zwei Schwestern. Also musste ich, nachdem ich mit dem Studium fertig war, von zu Hause ausziehen und selbst für mich sorgen. Ich musste, im wahrsten Sinne des Wortes, von meiner Hände Arbeit leben.
    Wann hatte ich das letzte Mal ein Buch gelesen? Und was für ein Buch war das? Sosehr ich auch nachdachte, ich konnte mich noch nicht einmal an einen Titel erinnern. Warum veränderte sich ein Leben so vollständig? Wohin war mein früheres Ich verschwunden, das wie besessen Bücher verschlungen hatte? Was hatten diese Jahre und diese schon fast sonderbare, extreme Leidenschaft für mich bedeutet?
    In dieser Nacht aber las ich »Anna Karenina« mit voller Konzentration. Wie betäubt las ich Seite um Seite. Nachdem ich ohne Unterbrechung bis zu der Szene gelesen hatte, wo sich Anna Karenina und Wronski am Bahnhof zum ersten Mal begegnen, legte ich ein Lesezeichen in das Buch und holte erneut die Flasche Cognac. Ich goss mir ein Glas ein und trank.
    Es war mir beim ersten Lesen nicht aufgefallen, aber jetzt kam mir der Roman irgendwie seltsam vor. Die Heldin des Romans, Anna Karenina, taucht bis Seite 116 nicht ein einziges Mal auf. Hatte das die Leser der damaligen Zeit nicht verwundert? Ich dachte eine Weile darüber nach. Ertrugen die Leser die ewig andauernde Beschreibung der langweiligen Figur Oblonskij und warteten gespannt auf den Auftritt der schönen Heldin? Vielleicht. Wahrscheinlich hatten die Menschen damals viel mehr Zeit. Oder jedenfalls die aus den Schichten, die Romane lasen.
    Auf einmal sah ich, dass die Uhr schon drei zeigte. Drei Uhr? Ich war noch kein bisschen müde.
    Was soll ich machen, dachte ich.
    Ich bin nicht im Geringsten müde. Ich könnte ewig so weiterlesen. Ich wüsste wahnsinnig gerne, wie es weitergeht. Aber ich muss schlafen.
    Mir fiel jene Zeit ein, als ich schon einmal von Schlaflosigkeit geplagt worden war. Die Zeit, in der ich den ganzen Tag wie in eine neblige Wolke gehüllt vor mich hin gelebt hatte. Nicht noch einmal. Damals war ich Studentin, da war das noch möglich. Aber jetzt ist das anders. Ich bin Ehefrau und Mutter. Ich trage Verantwortung. Ich muss das Mittagessen für meinen Mann machen, und ich muss für meinen Sohn sorgen.
    Auch wenn ich jetzt ins Bett ginge, würde ich wahrscheinlich kein Auge zumachen können. Das wusste ich. Ich schüttelte den Kopf. So ist es nun mal, sagte ich mir. Ich bin kein bisschen müde, und ich würde gern das Buch weiterlesen. Ich seufzte und sah auf das Buch vor mir.

    Ich las in »Anna Karenina«, bis die Sonne aufging. Anna und Wronski sehen einander auf dem Ball und verfallen ihrer fatalen Liebe. Als Anna auf der Rennbahn – es gab also wirklich eine Rennbahn – Wronski vom Pferd stürzen sieht und völlig aufgelöst ist, gesteht sie ihrem Mann ihre Untreue. Ich saß zusammen mit Wronski auf dem Pferd und setzte mit ihm über die Hürden, und ich hörte die Leute ihm zujubeln. Von den Zuschauerreihen aus sah ich Wronski vom Pferd stürzen. Als es draußen hell wurde, legte ich das Buch zur Seite und kochte mir in der Küche einen Kaffee. Die Szenen aus dem Roman, die immer noch in meinem Kopf
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