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Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Titel: Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
Autoren: Leif Randt
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evakuieren. Aber zu diesem Zeitpunkt weiß ich schon nicht mehr, ob die Stimme noch aus den Lautsprechern des TV-Gerätes dringt oder ob sie schon ein innerer Teil meines Halbschlafs ist. Ich spüre das gleichmäßige Atmen von CarlaZwei.
    Im Traum beobachte ich meinen Dad und Tom O’Brian, wie sie nebeneinander auf der Rückbank eines Motorbootes sitzen, mit großen Gläsern Wodka Apfelsaft in der Hand, und wie sie über mich sprechen. Tom sitzt links und mein Dad rechts, zwischen ihnen könnte man eine Spiegelachse einzeichnen. Sie äußern sich beide sehr stolz. Mit mir könne man wirklich gut über den Durst trinken, sagt Tom, und mein Dad lobt meine genaue Beobachtungsgabe und behauptet, dass aus mir auch noch ein großartiger Regisseur werden könnte. Sie lachen herzlich und stoßen an und hinter ihnen versinkt die Sonne scheinbar ewig im Ozean. Ich frage mich, wahrscheinlich noch träumend, ob ich diese Szene als versöhnlich auffasse oder eher als lächerlich. Zwischen meinem Dad und Tom O’Brian braucht es ja gar keine Versöhnung, sie kamen bislang immer gut miteinander aus. Und ich komme mit den beiden ja auch immer relativ gut aus. Also muss sich eigentlich niemand versöhnen, also ist mein Traum eher lächerlich, und vielleicht gefällt er mir gerade deshalb so gut.
    Beim Wachwerden ist es schon Abend und der Fernseher läuft noch immer. Auf seiner ersten Pressekonferenz kündigt Marvin Chapmen revolutionäre Neuerungen für CobyCounty an. Er spricht von ›produzierendem Gewerbe‹ , von ›Dienstleistungsexport‹ und von ›globalem Eventmarketing‹ . Weil er nach seinen eher unpräzisen Ausführungen jedoch vieldeutig lächelt, denke ich, dass er eigentlich nichts Besonderes anstrebt, sondern lediglich die Konservierung der aktuellen Standards. Und dagegen hätte ja auch niemand etwas einzuwenden. Insofern habe ich eigentlich keine Angst vor diesem Chapmen, wie auch immer er an sein Amt gekommen sein mag. Wichtig ist schließlich nur, was er jetzt daraus macht.

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    Ich habe das positive Gefühl, dass wir nicht von vorne anfangen müssen. CarlaZwei verfügt über einen Erfahrungshorizont, und ich verfüge über einen Erfahrungshorizont, und es kommt mir so vor, als käme uns das jetzt zugute. Wir zeigen uns gegenseitig Orte, an denen wir uns oft aufgehalten haben, und geben uns Hintergrundinfos zu diesen Orten: »Das hier war die Joggingstrecke meines Dads. Er ist hier auf und ab gelaufen und ich bin mit meinem ersten Mountainbike neben ihm hergefahren.« Zudem setzen wir uns in Bars und Konzeptgastronomien, die wir beide zuvor noch nie besucht haben, deren Besuch aber plötzlich sinnvoll erscheint. Unsere Stadt wirkt phasenweise neu auf uns.
    »Wenn dich jemand fragt, ob du derzeit in einer Beziehung bist, was sagst du dann?« , fragt CarlaZwei, vor einem Sauerkrautgericht sitzend.
    »Ich sage dann: ›Ich glaube schon.‹ Und was sagst du?«
    »Dass ich das noch nicht so genau weiß.«
    »Du findest nicht, dass wir zusammen sind?«
    »Hm … findest du das denn?«
    »Ich denke da gerade zum ersten Mal drüber nach.«
    Als das Dessert serviert wird, ein Apfelstrudel unter Vanillesoße, haben wir bereits wortlos entschieden, uns vorerst keine Gedanken über den Status unseres Kontaktes zu machen. Ihren Erzählungen zufolge hat auch CarlaZwei gute Erfahrungen mit dieser Undefiniertheit gemacht, und wir sind beide warmherzig genug, um uns dieses diffuse Freiheitsgefühl aufrichtig zu gönnen.
    »Warst du schon mal für längere Zeit weg von hier?« , fragt sie.
    »Ich war einmal mit Tom O’Brian und meiner Mutter in der Dominikanischen Republik, dreieinhalb Wochen lang, im Juli vor vier Jahren. Das waren eigentlich schöne Tage dort. Ich hatte eine Affäre mit einem Mädchen aus Stockholm. Wir haben uns auch danach noch E-Mails geschrieben, aber nur drei oder vier. Ihre E-Mails haben mir nicht gefallen. Und du?«
    »Ich bin durch Kalifornien gereist, zwölf Wochen lang. Ich erinnere mich an eine Affäre mit einem jüngeren Dänen. Er war neunzehn. Wir haben uns noch während der Reise getrennt. An dem Nachmittag, als er mir das Surfen beibringen wollte.« CarlaZwei lächelt: »Ich war dann auch froh, wieder zu Hause zu sein.«
    »Du hattest nie vor, aus CobyCounty wegzuziehen?«
    »Doch. Mit vierzehn und fünfzehn. Aber jetzt nicht mehr.«
    Auch der zweite Verdauungsschnaps geht aufs Haus. Ich hebe meinen Daumen für den Kellner, der eine etwas alberne, mitteleuropäische Tracht trägt. Er hebt
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