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scherbenpark

scherbenpark

Titel: scherbenpark
Autoren: Alina Bronsky
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Synapsen. Ich habe Vielleicht ein paar Millionen Synapsen mehr als Anna, bestimmt sogar. Außer Deutsch kann ich auch Physik, Chemie, Englisch, Französisch und Latein. Wenn ich mal eine Zwei kriege, kommt der Lehrer zu mir und entschuldigt sich.
    Besonders gut kann ich Mathe. Als wir vor sieben Jahren nach Deutschland kamen, war es das Einzige Fach, das ich in der fünften Klasse auf Anhieb konnte. Genau genommen hätte ich auch die Aufgaben der achten Klasse lösen können. In Russland war ich auf einem mathematischen Lyzeum.
    In Deutschland konnte ich am Anfang zwar kein Deutsch, aber die Zahlen natürlich trotzdem. Ich habe die Gleichungen als Erste gelöst, und immer richtig. Ich war die Einzige in der Klasse, die mit den Worten Algebra und Geometrie etwas anfangen konnte. Meine Mitschüler haben beides für Krankheiten gehalten.
    Meine Mutter hatte darüber gelacht und gesagt, dass ich ihr unheimlich bin. Ich war ihr schon immer unheimlich, weil ich logischer dachte als sie. Sie war zwar nicht dumm, aber viel zu gefühlvoll. Sie hat mindestens ein dickes Buch pro Woche gelesen, spielte Klavier und Gitarre, kannte eine Million Lieder und konnteauch gut mit Sprachen. Hat zum Beispiel ganz schnell Deutsch gelernt und sich vorher in einem passablen Englisch unterhalten.
    Aber Mathe, Physik, Chemie, das konnte sie nie. Ebenso wenig wie erkennen, wann es Zeit ist, einen Mann vor die Tür zu setzen. Das sind alles Fähigkeiten, die ich offenbar von meinem Vater habe. Ich weiß von ihm nur, dass er mehrere Doktortitel hatte und einen miesen Charakter. »Den hast du auch schon«, hat meine Mutter gesagt. »Und die Titel werden bestimmt nachkommen.«
    Ich bin die Einzige aus unserem Viertel, die auf die Alfred-Delp-Schule geht. Das ist ein privates katholisches Gymnasium, und ich weiß bis heute nicht, Warum die mich damals genommen haben – noch weitgehend sprachlos, nicht getauft, im pinkfarbenen Wollpullover Marke Oma, als noch kein Mensch pinkfarbene Pullover trug. An der Hand einer Mutter, die eben nur ihr blumiges Englisch mit einem furchtbaren Akzent sprach, dafür sehr laut, und ihre flammend roten Haare offen trug. Und in der Hand ein Liter Milch in der Aldi-Plastiktüte.
    Außer meiner Mutter hatten noch Hunderte deutschkatholische Architekten, Ärzte und Anwälte ihre Kinder angemeldet. alles Leute, auf deren Stirn mit großen Buchstaben »Spende gern und großzügig« geschrieben stand.
    An der Alfred-Delp-Schule muss man nämlich kein Schulgeld Zahlen, aber »Spenden sind willkommen«. Und die Schulsekretärin Frau Weimers, die meine Mutter, mich und die Plastiktüte über ihren Brillenrandbeäugt hatte, hatte von der Liquidität (wie wir Elite-Gymnasiasten das nennen) meiner Mutter bestimmt eine schnelle und realistische Vorstellung.
    Tatsächlich hat meine Mutter, nachdem ich dann an die Schule kam, im ersten Jahr zwanzig Euro und im zweiten zweiundzwanzig überwiesen, und mehr ging wirklich nicht. Eigentlich gingen auch diese Summen nicht, aber meine Mutter war grundsätzlich großzügig. »Ich hasse nichts so sehr wie das Schmarotzen«, war einer ihrer Lieblingssätze. »Das hasst du nur bei dir«, habe ich immer geantwortet. »Versuch doch mal, das auch bei anderen zu hassen. Bei Vadim zum Beispiel.«
    Ich denke inzwischen, die an der Schule haben mich genommen, um ein bisschen Integration zu proben. Viele Ärzte, Anwälte und Architekten haben nämlich für ihre Kinder Absagen bekommen. Am Ende gab es vier proppevolle fünfte Klassen, und in meiner 5c war ich die Einzige »mit Migrationshintergrund«. In der 5a gab es einen Jungen, dessen Vater Amerikaner war, und in der 5b einen mit einer französischen Mutter. In der ganzen Schule habe ich keinen einzigen Schwarzen gesehen und auch niemanden, der annähernd arabisch aussah. Meine Klasse hatte es also mit mir am heftigsten erwischt.
    Meine Mitschüler haben mich am ersten Tag an gestarrt, als wäre ich gerade aus einem Ufo geklettert. Sie stellten mir Fragen, die ich erst nicht verstehen konnte. Bald konnte ich sie verstehen, aber da dachten inzwischen alle, dass ich nicht ansprechbar bin. Es hat gedauert, bis sie sich umgewöhnt haben.
    Da die meisten von ihnen noch nie richtige Ausländer aus der Nähe gesehen hatten, waren sie alle nett zu mir. Einer der ersten Sätze, den ich verstanden habe, war ein Kompliment für meinen Pullover. Wahrscheinlich aus Mitleid. Als ich dann wenig später reden, rechnen und Diktate schreiben konnte und als Einzige
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