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Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter

Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter

Titel: Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
Autoren: Nora Melling
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gestorben. Wo sind die Eichhörnchen, die Spechte, die Meisen? Nur der Mond schwebt still über uns und sieht uns zu.
    Mit vor Kälte steifen Beinen richte ich mich auf. Am anderen Seeufer, auf der Greenwichpromenade, haben sich mittlerweile noch mehr Menschen versammelt. Sie scheinen mir unendlich weit entfernt. Fremde Gestalten umarmen sich, klopfen sich gegenseitig auf den Rücken. Sie wirken wie in einem Stummfilm, wenn sie lachend die Köpfe zurückwerfen, und hier hört man nichts. Wir sind entrückt wie auf einer Insel, denn dies ist unser Abschied. Trotz der Kälte werden meine Hände feucht. Gleich ist das Jahr vorbei.
    Dann endlich, endlich läuten die Glocken von Tegel herüber. Klingen im Rhythmus meiner Herzschläge, und ich weiß, das schlimmste aller Jahre ist vorbei.
    Thursen greift nach meiner Hand, und gemeinsam halten wir das Feuerzeug unter die Zündschnur. Als sie anfängt, Funken zu sprühen, weichen wir schnell zurück.
    Neues Jahr.
    Die Rakete steigt auf und nimmt unsere Trauerzettel mit sich. Wir halten uns beide, sehen zu, wie der schlimmste Kummer, die größten Sorgen fauchend hoch hinauf in den Himmel getragen werden und dort mit einem Knall zu blutroten Sternen zerplatzen. Zu nichts werden.
    Wir sind frei.
    «Ich liebe dich, Thursen.» Ich fühle Tränen auf meinen Wangen und sehe ihn nicht an. Leise flüstere ich es über den spiegelglatten See, der jetzt die tausend Funken der Feuerwerkskörper, die sie von der Greenwichpromenade aus zünden, reflektiert. Raketen, hübsch und bunt, die so viel weniger bedeuten als unsere.
    Und Thursen hat es doch gehört. «Ich dich auch, Luisa.» Seine Hand streicht mir, ohne meine loszulassen, über die Wange. Eisig vom Winterwind und doch sanft, verwischt er meinen Kummer. Der Wind trägt uns den bitterscharfen Geruch von verbranntem Schwarzpulver zu. Ich höre Thursens Atem, auch er ringt mit dem letzten Schmerz. Dann küsst er mich kurz und leicht, lässt mich los. Geht ein paar Schritte, um etwas aus seinem Rucksack zu nehmen. Zwei Gläser, zwei schlanke Sektkelche, die er mir zum Halten gibt. Und eine Flasche aus grünem Glas. Ich bemühe mich, nicht zu sehr zu zittern, während er einschenkt. Was in die Gläser fließt, klar wie flüssiger Bernstein, sprudelt nicht. «Was ist das?»
    Er lächelt. «Heller Traubensaft. Das, woraus Sekt gemacht wird.»
    Ich verstehe. Kein Sekt. Kein Alkohol, der den Geist verschleiert. Keine Beruhigungsmittel. Keine Drogen. Keine Verwandlung in ein Tier, nie mehr. In diesem neuen Leben, das jetzt beginnt, werden wir jede Sekunde bewusst erleben. Jeden Schmerz, der noch kommt, werden wir aushalten. Aushalten können, denn so schlimm wird es nie wieder sein.
    «Auf unser neues Leben», sagt Thursen.
    Ich lächle zurück, voller Vorfreude, auch wenn meine Zähne vor Kälte aufeinanderschlagen. «Auf das normale, alltägliche Leben. Mit Schule und Hausaufgaben. Mit der Familie am Esstisch. Auf das neue Leben, in dem Sterben nur im Fernsehen vorkommt.»
    Wir stoßen an. Süß und eisig gleitet der Saft meine Kehle hinunter und lässt mich schaudern.
    Sein Blick bannt mich. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich über seine Wangen. Fühle die von der Kälte raue Haut, die ersten kratzigen Bartstoppeln nach diesem langen Tag.
    Thursen, den blassdunklen Werwolf, den glaubte ich zu kennen. Jetzt, als Mensch, hat er seine Farben zurück. Seine Haare sind wie vor seiner Wolfszeit dunkelblond und seine Augen braun.
    Er ist mir fremd und vertraut zugleich, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen und wäre ihm doch gerade erst begegnet.
    Seine Lippen fangen meine Fingerspitzen für einen flüchtigen Kuss. Er lächelt. «Wir fangen neu an, okay?», flüstert er. «Kein Sterben mehr, kein Verstecken, keine schwarzen Gedanken. Nur vorwärtsgucken.»
    Nicht zweifeln. Wir schaffen es. Weil wir zusammengehören. Weil wir ein Recht darauf haben, endlich sorglos sein zu können. Und verliebt. Ehe ich ihm etwas davon sagen kann, nimmt er mir das leere Glas aus der Hand und küsst mich. Dass er jetzt mein Glas hält, ist gut, denn so habe ich die Hände frei. Kann meine Arme um seinen Hals schlingen, ihn an mich ziehen und ihm seinen Kuss zurückgeben. Kann mich an seinen Mantel schmiegen, der seinem alten so ähnlich sieht. Der Mantel war mein Weihnachtsgeschenk an ihn. Ich habe ihn auf dem riesigen Sonntagsflohmarkt an der Straße des siebzehnten Juni gefunden. An einem der Ständer hing er und sah aus, als sei Thursen da
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