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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind
Autoren: Leena Lehtolainen
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beigesetzt, obwohl die Presse und andere Neugierige dabei sein wollten. Deshalb haben wir Sie nicht eingeladen; außerdem hätten Sie ja auch einen langen Weg gehabt.
    Hochachtungsvoll, Ulrikes Mutter Helga Müller.»
    «Mutti, was ist da drin?» Offenbar hatte ich aufgeschluchzt, denn Taneli hatte seine Lektüre unterbrochen und starrte mich erschrocken an.
    «Ein Geschenk von einer Freundin. Ein Schmuckstück. Komm, wir sehen es uns an.» Ich gab mir Mühe, freudig überrascht zu wirken, denn meine beruflichen Sorgen gingen einen Neunjährigen nichts an. Ich öffnete das mit grünem Satin ausgeschlagene Kästchen. Darin lag ein Halsschmuck, ein schmaler Reif, an dem aus Silber geschmiedete, etwa sechs Zentimeter lange Anhänger in Form von Fichtennadeln befestigt waren. Ulrike hatte diesen Schmuck getragen, als wir mit den Afghaninnen den Abschluss des Polizeiausbilderkurses in Tampere gefeiert hatten. Danach waren unsere Schülerinnen nach Afghanistan zurückgekehrt, um dort die Polizeischule aufzubauen, und Ulrike war wieder nach München geflogen, wo sie mit ihrer Mutter in der Nähe des Englischen Gartens und der Pinakotheken wohnte. Ich hatte vorgehabt, sie zu besuchen, wenn in Süddeutschland der Frühling Einzug hielt. Doch bevor es dazu kam, war Ulrike gestorben, und nun erwartete mich in München nur ihr Grab.
    Ich brachte den Schmuck ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen unsere Katzen Seite an Seite. Der grau gestreifte Venjamin hatte im Herbst einen Gefährten bekommen, Jahnukainen, einen Kater aus dem Tierheim, dessen Fell dem Panzer einer Schildkröte ähnelte. Iida hatte zwei Jahre lang über Venjamins Einsamkeit gejammert und versprochen, sich darum zu kümmern, dass Venjamin sich mit einem neuen Katzenjungen anfreundete. Ein paar Wochen lang hatten die Tiere sich angefaucht und gezankt, doch dann gewöhnten sie sich aneinander. Mitunter kämpften sie spielerisch, dann wieder leckten sie sich gegenseitig den Nacken wie liebevolle Brüder.
    Die Musik war verstummt, ich hörte, wie Iida nach unten kam.
    «Hallo. Ich hab in der Mathearbeit eine Eins plus gekriegt! Wann fahren wir zu den Koivus?»
    Meine Tochter schaffte es, mich zum Lächeln zu bringen: Heute war zur Abwechslung ein Sonnentag. Gestern hatte sie noch gemotzt, weil sie bei den Koivus mit Kleinkindern spielen musste. Juuso war gut ein Jahr jünger als Taneli, Sennu war sechs, und Jaakko wurde in der nächsten Woche fünf. Das war der Anlass für die Einladung.
    «Wir nehmen den Bus um Viertel vor sechs. Eine Eins plus? Wofür hast du denn das Plus gekriegt?»
    «Die Lehrerin hat mir eine Zusatzaufgabe gegeben, weil ich so schnell fertig war.»
    Ich strich ihr über die Haare. Iida hatte die mathematische Begabung ihres Vaters geerbt. Sie war ein paar Zentimeter größer als ich und körperlich bereits eine junge Frau. Ihre Haare hatte sie schwarz gefärbt, und seit einem Jahr trug sie ausschließlich schwarze Kleidung. Ich hatte nicht vergessen, wie ich mich mit meiner Mutter über meine Kleidung gestritten hatte, darum erlaubte ich Iida anzuziehen, was sie wollte, obwohl sie es mit ihren Gothic-Spitzen und dem violetten Lidschatten mitunter derart übertrieb, dass ich ein Lachen nicht unterdrücken, sondern allenfalls als Hustenanfall tarnen konnte. Ich selbst hatte mit dreizehn noch Jeans und jungenhafte Hemden getragen, doch dann waren Sicherheitsnadeln und zerfetzte Strumpfhosen an der Reihe gewesen. Ulrike hatte mir erzählt, sie habe mit Punkmusik gegen ihre Rolle als braves bayerisches Mädchen rebelliert; unsere ähnliche Jugend hatte uns verbunden, obwohl Ulrike zehn Jahre jünger war als ich.
    Kaum dachte ich daran, kehrte die Trauer, die sich allmählich gelegt hatte, so heftig zurück, dass ich vor Wut hätte brüllen mögen. Zum Glück holte Iida ihre Klassenarbeit. Sie wollte ihr Lob, und ich gab es ihr. Bei einer Dreizehnjährigen war es das Beste, jeden Moment zu genießen, in dem sie noch die Nähe ihrer Eltern suchte.
    Für den Besuch bei den Koivus kleidete ich mich nicht besonders festlich, legte aber den Schmuck an, den ich von Ulrike geerbt hatte. Anu und Pekka Koivu waren gute Freunde, ihnen konnte ich die Geschichte der Halskette erzählen. Antti kam so spät nach Hause, dass uns nur noch fünf Minuten blieben, bevor wir zum Bus gehen mussten, und er merkte natürlich nicht, was ich anhatte. Er war vor einiger Zeit widerstrebend an die Universität zurückgekehrt, um eine Mathematikprofessur zu übernehmen. Die
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