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Saat der Lüge

Saat der Lüge

Titel: Saat der Lüge
Autoren: B Jones
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korrekte Nachbildung eines riesigen Penis hervor. Abscheu und Fassungslosigkeit erobern ihr Gesicht. Das war selbst für Tims Verhältnisse dreist. Zu dieser Sorte Mädchen gehörten wir nicht, so etwas hatten wir zur damaligen Zeit noch nie gesehen – es war Jahre bevor Sexshops gesellschaftsfähig wurden und sich in den Hauptgeschäftsstraßen ansiedelten, Jahre bevor solche Dinge im Fernsehen und in Zeitschriften omnipräsent wurden. Oder hatten wir nur bisher nicht richtig hingesehen?
    Himmel, wir schrieben schließlich die Neunziger und nicht die Sechziger! Wie dem auch sei, Coras Augen weiten sich, und ein Schauder des Ekels durchfährt sie, der wellenförmig auf uns zuströmt. Cora war trotz ihres tief ausgeschnittenen Cocktailkleids eine junge Dame, die sich die Wörter »Scheiße« und »Verdammt« für ganz besondere Gelegenheiten aufhob.
    Drei Sekunden lang halten wir die Luft an. Was würde sie sagen? Rechtfertigte die Situation einen Kraftausdruck, vielleicht sogar Schlimmeres als »Scheiße« oder »Verdammt«? Dann löst sich der erwartete Zorn in wildem Gelächter auf.
    »Oh mein Gott! Du Perverser!«, gluckst sie mit übertriebener Abscheu, und wir stimmen alle in ihr Lachen ein, weil wir jetzt wissen, dass alles in Ordnung ist. Wie aufs Stichwort erscheint Mike mit einem um die Hüfte gewickelten fadenscheinigen blauen Handtuch im Türrahmen. Seine Haut dampft noch, die Haare stehen widerspenstig wie ungemähtes Gras von seinem Kopf ab. Auch er lacht.
    »Scheiße noch mal, Tim! Was ist los mit dir, Alter? Das ist das letzte Mal, dass du hier zum Abendessen eingeladen bist!« Sein vor Feuchtigkeit und Hitze rosiges Gesicht rötet sich noch mehr, und ein strahlendes Lächeln breitet sich darauf aus.
    Dunkle Haare.
    Tim streckt die Hand nach dem Vibrator aus und steckt ihn sich in einer übertriebenen Fellatioimitation in den Mund, bevor Stevie eine leere Bierdose quer durchs Zimmer nach ihm wirft, die sauber gezielt an seinem Kopf landet.
    Wir feuern die beiden an, und ein Ringkampf bricht aus, bei dem Stevie zulässt, dass Tim ihn zu Boden wirft, wo er dann alle möglichen unaussprechlichen Dinge mit seinem neuesten Spielzeug simuliert. Wir Mädchen rufen und japsen dazwischen, ein wenig schockiert und doch mit dem Gefühl, wagemutig und verständnisvoll und erwachsen zu sein. Jeder kennt seine Rolle. Wir sind ein dankbares Publikum.
    Mike zwinkert Cora von der Tür aus zu, aus sicherem Abstand zum Geschehen. Er hält eine Bierdose in der Hand, die er aufmacht und dabei gleichzeitig die Augen verdreht.
    Cora betrachtet mit nachsichtigem Lächeln das Gemetzel. Meine Jungs, denkt sie, während ich ihr beim Lächeln zusehe.
    Weniger als eine Stunde später sind wir auf dem Weg ins Studentenwerk, und ich klammere mich unter einer Kuppel aus sanft leuchtenden Sternen stolpernd an Stevie. Bier und Musik haben Mike sichtlich aufleben lassen. Er schlägt am Bordsteinrand entlang ein schiefes Rad nach dem anderen und singt dabei lauthals Country House und Charmless Man von Blur. Immer Blur, nie Oasis. Und wir stimmen alle mit ein. Zumindest in dieser Schlacht waren die Fronten schnell geklärt.
    Tim ist zurückgeblieben, er ist jetzt schon stockbesoffen.
    Dann überqueren wir die Straße. Das ist der Moment. Der Moment, an dem sich alles zu ändern beginnt, der Moment, der keinen von uns unverändert lässt. Aber das wissen wir in diesem Augenblick noch nicht.
    Mike steht inzwischen wieder aufrecht und tanzt mit rotem Kopf auf Cora und mich zu, um uns mit imaginärem Mikro ein Ständchen zu bringen. Er greift nach meiner Hand und winkt mich mit scherzhaft lüsternem Blick zu sich, seine Schritte sind übertrieben abgehackt, damit es ja keine Missverständnisse gibt: Hier findet eine Vorstellung statt, eine Parodie. Erst optimale Voraussetzungen abwarten und dann allen die Schau stehlen – das war sein Stil.
    Einen großartigen Moment lang drehe ich an seiner Hand eine Pirouette nach der anderen, atemlos und keuchend, während mein Kleid fast unanständig hoch durch die Luft wirbelt, schwarz weiß rot, schwarz weiß rot. Dabei scheinen wir ein elektromagnetisches Feld zu erzeugen, denn meine Haarspitzen stehen zu Berge, und herumliegende Chipstüten werden von unserem Strudel erfasst und mitgerissen. Ich bilde mir ein, dass wir Funken sprühen, und lache aus reiner Freude an der Bewegung. Die Jungs feuern uns an, die im Dunkeln liegende Straße verschwindet. In dieser einen Sekunde ist unser Schicksal
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