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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz
Autoren: Werner Bräunig
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Halden rücken auf die Straße an im Unterdorf. An den Hängen schreiten Bauplätze talwärts. Überm Oberdorf wachsen die Lichtungen. Bermsthal von oben ist ein Fleck im Wald, eine Landschaft aus Beton, ein Platz für Menschen und Steine.
     
    Unten kollerten die Sprengungen. Mit den Wettern strichen Pulvergase in die südlichen Strecken, stockten am Versatz, zogen warm zum ausziehenden Fritzschacht. Trockener |40| Bohrstaub stand im Gesenk. Aber das Südfeld war wenig befahren, nordöstlicher strichen die Abbaue, die Überhauen nördlicher. Dumpfe Luft stand in uraltem Silberstollen, mürbe, von Faulholz gesäuert. Der Frischwetterstrom kam da nicht hin. Der kam nur hin, wo er wieder herauskonnte: vom Hauptförderschacht durchs Revier, durch nördliche und östliche Gänge, durch Querschläge und Hauptförderstrecken, durch Rohre kam er, Lutten genannt, in Abgelegenes, er hatte Anfang und Ende und also Richtung. Das muß man wissen, wenn man sich einrichtet untertag.
    Zwei gingen die Strecke entlang. Vorn ging der Alte, der Jüngere folgte. Er folgte ungeschickt, denn er kannte die Strecke nicht. Einen Stempel trug er, unter dem er gebückt ging, obwohl der Stempel nicht schwer war. Er dachte aber immer, er könnte an die Firste stoßen. Er schob die Brillenbügel zurecht, die der Helm störte. Er strich das Haar unter den Helm, das der Schweiß verklebt hatte. Er ging müde und strauchelnd.
    Aber der Alte ging aufrecht. Von den nördlichen Abbauen kamen sie, da hatte der Alte den Jungen mitgenommen, weil der nicht mehr konnte. Weil der schlappgemacht hatte vor Ort. Dreimal hatte er schlappgemacht, an drei Tagen hintereinander, und hatte sich wieder aufgerafft und wieder schlappgemacht. Da hatte der Alte ihn herausgenommen aus dem Abbau, für heute wenigstens, ein bißchen verschnaufen. Naja, hatte der Alte gesagt, das dauert halt. Ich kannte mal einen, früher, der war genauso. Es war aber sehr früher gewesen, und der Alte hatte nicht gesagt, daß er das selber gewesen war. Zweites Kriegsjahr, erster Weltkrieg, zwölf Stunden Schicht. »Hätt der selber nicht geglaubt«, sagte der Alte, »der ist noch ’n richtiger Bergmann geworden.« Und ging die Strecke entlang, immer vor dem Jungen her. Aber der Junge glaubte nicht, daß er sich je gewöhnen würde an das.
    Ein anderer war dort geblieben, auch ein Junger, der hatte nicht schlappgemacht. Der stand im Abbau, bolzte, sackte |41| Masse, und mit einem wie dem Alten sprach der gar nicht. Vor drei Tagen schon hatte er nicht mit ihm gesprochen, hatte ihn einfach sitzenlassen mit seiner Frage, als ob da bloß Luft wäre. So einer war das also. Autoschlosser hatte er werden wollen. Und hätte es nicht werden können, weil da Leute gewesen wären, in des Alten Alter etwa, die hätten die Welt kaputtgemacht, und hinterher sei keine gute Zeit gewesen für Autoschlosser. So einer war das. Der Alte wußte schon, was für einer das war. Und er hätte ein paar gute Antworten gehabt. Aber er hatte nichts gesagt. So einer war nun er wieder, der Alte. Und dann hatte er erfahren, denn er erfuhr so manches, daß der Junge hingegangen war in die Bahnhofskneipe, gleich am ersten Tag, und hatte da eine Keilerei angefangen. Und hatte auch dazu nichts gesagt. Er hatte seine Erfahrungen mit Leuten, die zuschlugen und den Mund nicht aufmachten. Und am anderen Abend hatte er sie singen gehört, den Jungen mit seiner Gitarre, und die anderen. Wir lagen vor Madagaskar. Und hatten die Pest an Bord. Lauter solche Sachen. Da war ihm manches eingefallen, dem Alten auf seinem Strohsack. Die Schläger sind rührselig, das wußte er. Die Brutalität ist sentimental. Lauter solche Geschichten waren ihm eingefallen von einer Wachmannschaft zum Beispiel, die Ukrainer und Franzosen nackt in den Schnee stellte und mit Wasser begoß, mal sehen, wer es länger aushält. Ein Ukrainer hatte es am längsten ausgehalten. Und dann hatte die Wachmannschaft in ihrer Baracke zur Ziehharmonika gesungen und gesoffen und gegrölt die ganze Nacht. Lauter solche Geschichten. Und der Alte hatte gedacht: Was ist das für eine Menschensorte, aus der man so was machen kann? Was kann man denn aus so einer Sorte machen? Und als sie endlich nicht mehr gesungen hatten, hatte er gedacht: Entweder sie sind so von Anfang an, oder etwas läßt sie so werden. Und als er sich klar darüber war, daß er an den ersten Teil der Frage nicht glaubte, hatte er endlich schlafen können.
    |42| Zwei gingen die Strecke entlang. Und Hermann
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