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Ruf der Drachen (German Edition)

Ruf der Drachen (German Edition)

Titel: Ruf der Drachen (German Edition)
Autoren: Yalda Lewin
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schwieg der Speier, als hätte er seit Jahren keinen Tropfen mehr von sich gegeben.
    Ich zog ein Stück Notenpapier aus meiner Hosentasche. Schon seit einigen Jahren trug ich stets welches bei mir, für den Fall, dass mir eine besonders schöne Melodie wie aus dem Nichts in die Gedanken kam. Auf diese Weise hatte ich schon einige gelungene Ideen festgehalten. Doch jetzt brauchte ich das Blatt für etwas anderes. Ich notierte den Rhythmus des Wassers, als würde ich eine Komposition festhalten. Das war für mich die einfachste Möglichkeit, um die Längen und Intervalle des Sprudelns und der dazwischen liegenden Stille aufzuzeichnen. Dann, als der Speier schließlich wieder schwieg, starrte ich auf das Blatt. Acht Noten in gleichförmigem Achtelrhythmus. Das war alles, was der Wasserspeier verriet. Und so sehr ich mich auch bemühte, einen Sinn darin zu finden – er wollte sich mir nicht erschließen. Wahrscheinlich, weil es gar keinen gab. Hatte der Wasserspeier in Friedenau den gleichen Rhythmus gezeigt? Ich war mir nicht sicher. Aber merkwürdig war dieses Phänomen auf jeden Fall.
    Seufzend steckte ich das Blatt ein und wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als mir eine kleine Delle an der Seite der Muschel auffiel, die den Kopf des Drachen umrahmte. Ich beugte mich hinunter und begutachtete die Stelle genauer. Die Verzierung hatte die Form eines Seesterns. Und es sah aus, als ob …
    Mein Herz begann schneller zu schlagen. Konnte das sein?
    Ich zog vorsichtig daran und sofort klickte es fast unmerklich, als der vordere Teil des Seesterns herunterklappte. Überrascht starrte ich auf die kleine Höhle, die darunter zum Vorschein kam.
    Ein Geheimfach!
    Und darin lag etwas!
    Mit zitternden Fingern holte ich ein zusammengerolltes Stück Papier heraus. Am liebsten hätte ich es sofort geöffnet, doch mir war nur zu bewusst, dass ich hier im Hof jederzeit beobachtet werden konnte. Also schloss ich das Geheimfach, ließ das Papier in meine Hosentasche gleiten und wandte mich zum Gehen, als wäre nichts passiert. Das Herz schlug mir bis zum Hals und die trüben Fenster des alten Hauses wirkten plötzlich wie wachsame Augen, die düster auf mich herabstarrten.
    Im Schutz der Toreinfahrt angekommen, zog ich das Papier hervor und rollte es vorsichtig auseinander.
    Vergeude keine Zeit, die Tage der alten Ordnung sind gezählt! Ein Umbruch steht bevor! Ereignisse, nach denen dieses Land nie wieder sein wird wie zuvor.
Ein Wolf, ein Kater und sieben Raben im Blick der Hirsche. Wer den Strahlen der Sonne folgt, findet die Spur. Lausche den Speiern und dir offenbart sich die Warnung.
Stehst du auf der richtigen Seite?
    Vielleicht ein Freund
    Einen Augenblick lang starrte ich fassungslos auf die Nachricht. Es war nur ein kleiner Zettel, mit Schreibmaschinenschrift bedruckt. Ich hatte viel erwartet, aber so etwas mit Sicherheit nicht! Wer hatte diese Nachricht geschrieben? Und was sollte das heißen, man müsse die Speier verstehen?
    »Ein Wolf, ein Kater und sieben Raben«, murmelte ich vor mich hin.
    Klingt wie ein Rätsel …
    Dann runzelte ich die Stirn. Was hatte diese kryptische Botschaft zu bedeuten? Entweder, der Verfasser war vollkommen irre, oder mir fehlte das Wissen, um das Rätsel zu lösen.
    Ich richtete den Blick zurück auf den Wasserspeier, der in genau demselben Moment erneut sein regelmäßiges Spiel aufnahm. Die Rhythmen, die mir aufgefallen waren.
    War das vielleicht die »Sprache der Wasserspeier«? Doch wie sollte man sie entschlüsseln?
    Das Plätschern verstummte wieder. Stille legte sich über den Hof. Und nur Sekunden später tauchte ich wieder ein in den Nebel der Straßen.
    ***
    Wasserspeier …
    Das schmale Buch, das ich in der Bibliothek, Fachabteilung Kulturgeschichte, aus dem Regal gezogen hatte, brachte mich nicht wirklich weiter. Es enthielt jede Menge Informationen über verschiedene Arten von Brunnenskulpturen, über Wasserspeier an Sakralbauten, über Gartenarchitektur – aber nicht die geringste Anmerkung darüber, wie die Mechanik von Wasserspeiern funktionierte oder wie sich erklären ließ, dass sowohl der Drache in Friedenau als auch der in Marens Hof in unregelmäßigen Abständen Wasser von sich gaben.
    Seufzend stellte ich das Buch zurück und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Mein Blick wanderte zum Fenster. Was hatte es mit dieser merkwürdigen sonnenartigen Gravur auf sich? War sie eine Art Signatur? Führte sie vielleicht zu dem Erbauer der Drachen? Bisher wusste ich so
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