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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Autoren: Meredith Duran
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Geschöpf mit einem markanten Kinn und einer langen Nase. Zweifellos wurde er von Menschen, die sich von Merkmalen der Entkräftung angesprochen fühlten, für sehr gut aussehend gehalten. Die Schatten unter seinen Augen wiesen auf einige schlaflose Nächte hin. »Jetzt nicht«, sagte er zu ihr und wollte sich schon abwenden. Doch dann blickte er zurück, musterte sie eingehend und fügte nachdenklich hinzu: »Aber später durchaus.«
    Diese Dreistigkeit beruhigte sie seltsamerweise. Schönlinge mochten rar gesät sein und sie in Verwirrung stürzen, aber mit gewöhnlichen Lumpen wusste sie umzugehen. »Wenn Sie mir vorher noch zugestehen, meinen Vortrag zu beenden, Sir?«
    Doch sie sprach nur noch zu Hinterköpfen. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet und die ihres Publikums gleich mitgenommen. Papas Publikum!
    Ungläubig sah sie zu, wie er zu einem älteren Gentleman, der ganz am Rand der Reihe saß, sagte: »Na schön, dann kommt der Berg eben zum Propheten.« Er gab dem Diener ein Zeichen, der prompt vortrat und ihm die Steinsäule reichte, die er vorher noch unter den Arm geklemmt hatte.
    Diverse Mitglieder der Gesellschaft, darunter auch Lord Ayresbury, standen auf, um sie sich anzusehen.
    Der ältere Mann erhob sich ebenfalls. »Was hat das zu bedeuten, du Teufel?«
    »Das, Sir, werden Sie mir sagen müssen.« Auf ein Nicken des Eindringlings hin legte der Diener den Gesteinsbrocken dem älteren Mann zu Füßen. »Meine Stele. Nicht zu verwechseln mit Stella, die du für immer allen Blicken entzogen hast. Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber man hat mir versichert, dass es sich um ein ziemlich wertvolles Stück handelt. Und dazu noch ein sehr seltenes.«
    Die Zuschauer verfielen in andächtiges Schweigen, während der Diener das Objekt zur Zufriedenheit seines Herrn aufstellte. Ihr Vortrag war zu einer Jahrmarktsdarbietung verkommen. Lydia blickte durch einen eigenartig dunstigen Schleier, was, wie sie entsetzt feststellte, Tränen sein mussten. Du lieber Gott, wie ein kleines Kind zu plärren, und dazu noch in der Öffentlichkeit! Plötzlich war sie dankbar dafür, dass das Publikum abgelenkt war, und wischte sich mit dem Handgelenk über die Augen. Das war aber auch zu albern von ihr. Sie sollte würdevoll auftreten.
    Doch die Hoffnung starb immer zuletzt. Auch wenn sie tief in ihrem Herzen ein schreckliches Todesröcheln vernahm.
    »Ach was«, rief ein Mann aus der hintersten Ecke. Er drängelte sich in den Gang, was einen Chor aus Gemurre und Protesten derer zur Folge hatte, die in seiner Reihe saßen. »Ist das etwa Nofretete ?«
    Der Eindringling betrachtete die Steinsäule. »Könnte wohl sein«, sagte er nachdenklich. Wusste er es nicht einmal? Diese Schönlinge waren immer die schlimmsten Dilettanten. »Sie meinen die, die sich an den Burschen schmiegt mit dem … ?« Er deutete über seinem Kopf eine mysteriöse Form an.
    Aha, ein konischer Hut pharaonischen Typs. Lydia machte sich auf etwas gefasst.
    Und wahrhaftig: sofortiges Tohuwabohu brach aus. Stühle kippten um, Programmhefte rutschten zu Boden und erstaunte Ausrufe und Spekulationen gellten durch den Raum, während drei Viertel ihrer einstigen Zuhörerschaft ausschwärmten, um das Objekt zu betrachten.
    Einige derer, die auf ihren Plätzen blieben, hatten einen mitfühlenden Blick für sie übrig. Es gelang ihr, höflich zurückzulächeln. Der rothaarige Gentleman grinste sie süffisant an, doch sie wandte sich ab und schnitt ihn, was selbst seinen dunklen Knopfaugen auffallen musste. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er seiner Begleiterin, einer tadellos gekleideten Blondine etwa in Lydias Alter, etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin diese ihre dünnen, patrizischen Lippen leicht verzog.
    Lydia kämpfte gegen das dringende Bedürfnis an, mit den Augen zu rollen. Solche Blicke waren ihr nur allzu vertraut. Als sie zwölf war, deuteten sie an, dass ihr Lerneifer langweilig war und ihre kurzen Röcke unzeitgemäß. Als sie siebzehn war, dass ihr Interesse an heidnischen Zivilisationen sie wie einen Mann wirken ließ. Als sie zweiundzwanzig war, dass sie merkwürdige Dinge äußerte und es kein Wunder war, dass ihr Schwager sie für ihre Schwester verschmäht hatte. Und jetzt, mit sechsundzwanzig … ? Mit sechsundzwanzig Jahren war Lydia zu reif, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie bemühte sich um akzeptables Verhalten, doch mehr schuldete sie der feinen Gesellschaft nicht, und sie verlangte auch ganz sicher
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