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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot
Autoren: Kerstin Gier
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Unsere Großmutter würde entzückt sein. Und Tante Glenda erst.
    »Oh, cool«, flüsterte Leslie neben mir. »Wird sie jetzt
durchsichtig?«
Obwohl Lady Arista uns von klein auf eingetrichtert hatte, dass wir unter gar keinen Umständen mit irgendjemandem über die Vorkommnisse in unserer Familie reden dürften, hatte ich für mich selber beschlossen, dieses Verbot bei Leslie zu ignorieren. Schließlich war sie meine allerbeste Freundin und allerbeste Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander.
    Charlotte machte zum ersten Mal, seit ich sie kannte (was genau genommen mein ganzes Leben war), einen beinahe hilflosen Eindruck. Aber dafür wusste ich, was zu tun war. Tante Glenda hatte es mir oft genug eingeschärft.
    »Ich bringe Charlotte nach Hause«, sagte ich zu Mr Whitman und stand auf. »Wenn das okay ist.«
    Mr Whitmans Blick ruhte immer noch auf Charlotte. »Das halte ich für eine gute Idee, Gwendolyn«, sagte er. »Gute Besserung, Charlotte.«
    »Danke«, sagte Charlotte. Auf dem Weg zur Tür taumelte sie leicht. »Kommst du, Gwenny?«
    Ich beeilte mich, ihren Arm zu nehmen. Zum ersten Mal kam ich mir in Charlottes Gegenwart ein bisschen wichtig vor. Es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung mal gebraucht zu werden.
    »Ruf mich unbedingt an und erzähl mir alles«, flüsterte Leslie mir noch zu.
    Vor der Tür war Charlottes Hilflosigkeit schon wieder verflogen. Sie wollte tatsächlich noch ihre Sachen aus dem Spind holen.
    Ich hielt sie am Ärmel fest. »Lass das doch, Charlotte! Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause. Lady Arista hat gesagt . . .«
    »Es ist schon wieder vorbei«, sagte Charlotte.
    »Na und? Es kann trotzdem jeden Augenblick passieren.« Charlotte ließ sich von mir in die andere Richtung ziehen. »Wo habe ich nur die Kreide?« Ich kramte im Gehen in der Jackentasche. »Ach, hier ist sie ja. Und das Handy. Soll ich schon mal zu Hause anrufen? Hast du Angst? Oh, dumme Frage, tut mir leid. Ich bin aufgeregt.«
    »Schon okay. Ich habe keine Angst.«
    Ich sah sie von der Seite an, um zu überprüfen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte ihr kleines, überlegenes Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt, unmöglich zu erkennen, welche Gefühle sie dahinter verbarg.
    »Soll ich zu Hause anrufen?«
    »Was soll denn das bringen?«, fragte Charlotte zurück. »Ich dachte nur . . .«
    »Du kannst das Denken getrost mir überlassen«, sagte Charlotte.
    Wir liefen nebeneinander die Steintreppen hinunter, auf die Nische zu, in der James immer saß. Er erhob sich sofort, als er uns sah, aber ich lächelte ihm nur zu. Das Problem mit James war, dass niemand außer mir ihn sehen und hören konnte.
    James war ein Geist. Deshalb vermied ich es, mit ihm zu sprechen, wenn andere dabei waren. Nur bei Leslie machte ich eine Ausnahme. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde an James' Existenz gezweifelt. Leslie glaubte mir alles und das war einer der Gründe, warum sie meine beste Freundin war. Sie bedauerte zutiefst, dass sie James nicht sehen und hören konnte.
    Ich war darüber eigentlich ganz froh, denn das Erste, was James sagte, als er Leslie sah, war: »Himmelherrgott! Das arme Kind hat ja mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind! Wenn sie nicht schleunigst anfängt, eine gute Bleichlotion aufzutragen, wird sich niemals ein Mann für sie finden!«
    »Frag ihn, ob er vielleicht irgendwo einen Schatz vergraben hat«, war hingegen das Erste, was Leslie sagte, als ich die beiden einander vorstellte.
    Leider hatte James nirgendwo einen Schatz vergraben. Er war ziemlich beleidigt, dass Leslie ihm das zutraute. Er war auch immer beleidigt, wenn ich so tat, als sähe ich ihn nicht. Er war überhaupt recht schnell beleidigt.
    »Ist er durchsichtig?«, hatte Leslie sich bei diesem ersten Zusammentreffen erkundigt. »Oder so schwarz-weiß?«
    Nein, James sah eigentlich ganz normal aus. Bis auf die Klamotten natürlich.
    »Kannst du durch ihn hindurchgehen?«
    »Ich weiß nicht, ich hab's noch nie versucht.«
    »Dann versuch es jetzt mal«, hatte Leslie vorgeschlagen.
    Aber James wollte nicht zulassen, dass ich durch ihn hindurchging.
    »Was soll das heißen -
Geist?
Ein James August Peregrin Pimplebottom, Erbe des vierzehnten Earls von Hardsdale, lässt sich nicht beleidigen, auch nicht von kleinen Mädchen.«
    Wie so viele Geister wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er kein Mensch mehr war. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Wir kannten uns mittlerweile seit fünf
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