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Rot

Rot

Titel: Rot
Autoren: Taavi Soininvaara
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Tränen, ich versuche nicht daran zu denken, was Mutter und Emma gerade angetan wird.
    Schließlich geht der Schlaf doch als Sieger hervor. Als ich aufwache, habe ich entsetzliche Angst. Unten sind wieder Geräusche zu hören, Vaters Schreie klingen nun gedämpfter, wie lange wird er das noch aushalten? Die Zeit kriecht dahin, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange ich schon vor Kälte auf dem Dachboden zittere.
    Ich falle in eine Art Trancezustand, dessen Rhythmus von Vaters Schreien und meinem Kampf gegen das Einschlafen bestimmt wird. Allmählich geht mein Zeitgefühl verloren, am Ende weiß ich nicht mehr, ob ich mich erst einen oder schon zwei, drei Tage hier verstecke. Vor Hunger tut mir der Magen weh. In der quälenden Einsamkeit empfinde ich selbst die ewigen Streitereien zwischen Vater und Mutter als angenehme Erinnerungen. Unten wimmert Vater leise, das ist die Stimme eines Mannes, der aufgegeben hat, es klingt, als würde er beten, endlich erlöst zu werden, lange hält er nicht mehr durch. Dann verlässt der Folterknecht Manas den Raum, jetzt können sich alle für einen Moment ausruhen.
    Doch plötzlich höre ich, dass die Stahltür wieder geöffnet wird, weshalb kehrt Manas so schnell zurück? Ich drehe mich auf den Bauch und drücke ein Auge auf das Guckloch. Der Kirgise lächelt Vater an, nicht schadenfroh, nicht grausam, sondern irgendwie merkwürdig. Vater sitzt blutüberströmt da, er kann nur mit Mühe den Kopf hoch halten. Mir kommen die Tränen, sie lassen sich nicht unterdrücken.
    Auf einmal beugt sich Manas vor und öffnet Vaters Fesseln, das hat der Folterer bisher kein einziges Mal getan. Dann hebt er den Kopf, schaut nach oben zur Decke und starrt mich an, als wüsste er, dass ich hier bin. Im hellen Licht ist sein gleichgültiges Gesicht gut zu sehen, die hohen Backenknochen, die schrägen Augen, das schwarze Haar … Manas brüllt Vater an, packt ihn am Arm, versucht ihnhochzuziehen und stößt ihn schließlich zurück auf den Stuhl. Dann taucht in der Hand des Kirgisen eine Waffe auf.
    Zwei Schüsse. Vaters Kopf schnellt nach hinten, die Wand färbt sich vom Blut ganz rot. Ich übergebe mich heftig, die stinkende Flüssigkeit tropft durch das Loch hinunter in den Verhörraum.
    Schwankend stehe ich auf. Panische Angst überkommt mich, mein ganzer Körper ist wie betäubt, die Schüsse dröhnen mir in den Ohren. Ich stürme los und bin nur noch zwei Meter von der Dachbodentür entfernt, da fliegt sie auf. Manas tritt herein und verpasst mir kurzerhand einen Faustschlag gegen die Brust, der mich umwirft. Der Kirgise greift nach meinem Hemd, es wird zerfetzt, als ich versuche mich loszureißen. Dann legt sich seine Hand um meinen Hals und drückt zu. Nun geht alles zu Ende …
    Manas schleppt mich in die darunterliegende Etage. In meiner Todesangst wehre ich mich, trete um mich und versuche zu beißen, der Kirgise öffnet eine Tür am Giebelende der Halle und stößt mich auf den kalten Betonfußboden des hell erleuchteten Raumes. Mutter hängt etwa zwanzig Meter entfernt mit Ketten an der Wand, ihr Mund ist zugeklebt. Sie ist nackt und bewusstlos, das Gesicht blutverschmiert, der ganze Körper mit blauen Flecken übersät. Emma sitzt auf dem Fußboden, hat die Arme um die Beine geschlungen, murmelt irgendetwas und starrt mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin, mich bemerkt sie nicht. Mir stockt der Atem.
    Ich mache ein paar Schritte zu meiner Mutter hin, aber Manas verstellt mir den Weg und packt mich am Kinn. »Wo bewahrt dein Vater sein Forschungsmaterial auf ?«
    Ich weiß es, ich kenne die Antwort – in seinem Arbeitszimmer, in dem großen, alten Röhrenradio. Ich habe gesehen, wie Vater die Rückwand des Geräts abgenommen und Unterlagen hineingesteckt hat.
    »Wenn du nicht redest, erschieße ich erst deine Mutter und dann das Mädchen.«
    Vor so eine Entscheidung dürfte niemand gestellt werden. Ich binhalbtot vor Angst, mein Gehirn funktioniert nicht. Emma steht unter Schock. Vater ist wegen seiner Unterlagen getötet und Mutter halb tot geschlagen worden. Aber keiner von beiden hat etwas verraten.
    »Ich zähle nicht bis zehn, nicht einmal bis fünf. Ich gehe zu deiner Mutter hin, drücke ihr die Waffe an die Stirn und schieße. Das ist jetzt deine einzige Chance zu reden«, sagt Manas und starrt mich ausdruckslos an. Ich bin sicher, dass er seine Ankündigung wahr machen wird.
    Manas wendet sich zu Mutter hin und geht auf sie zu. Ich zähle die Schritte, die Zeit
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