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Rot

Rot

Titel: Rot
Autoren: Taavi Soininvaara
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wie ein dicker, dunkelblauer Wurm sichtbar wurde, stach die Nadel in das Gefäß und drückte den Kolben langsam nach unten, sehr langsam.
    Als sich das Wohlgefühl wie auf leisen Sohlen in seinem Körper ausbreitete, seufzte Kara und entspannte sich. Das war der einzige Fluchtweg, wenn die Verzweiflung die Oberhand gewann, wenn er dringend Hilfe brauchte, aber keiner da war und half. Nie war jemand da, der ihm half. Er schloss die Augen und sah seine Mutter in jungen Jahren vor sich, als sie noch in Helsinki gewohnt hatten, vor all dem Grauen. Es schneite damals, Mutter trug eine hübsche weiße Mütze und rote Winterstiefel. Er lief auf der Eisbahn in Tapanila mit den Schlittschuhen, die er zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Mutter stand daneben auf dem Eis und freute sich, sie war unglaublich froh und schön und sehr stolz, als sie ihm zuschaute.
    Er öffnete die Augen und schüttelte die Erinnerung ab. Dann goss er sich zwei Fingerbreit Linie-Aquavit aus dem Gefrierfach in ein Glas, nahm den Küchenhocker und trat hinaus auf seinen kleinen Balkon. Die Oktobernacht war so kalt, dass er eine Gänsehaut bekam. Die nahegelegenen Straßen schimmerten im diesigen Licht der Laternen, im Vergnügungspark Donau-Insel mitten auf dem Fluss glitzerten nur ein paar Lampen. Auf der anderen Seite des Flusses im Stadtviertel Alte Donau war seine Arbeitsstelle zu sehen, der Gebäudekomplex der Vereinten Nationen, die UNO-City.
    Das Schicksal seiner Mutter und seine Schuld gingen ihm immer noch durch den Kopf, aber das Bedrohliche daran schien jetzt in der Ferne zu liegen, wie hinter einem Nebelschleier. Nun wusste er endlich, was damals geschehen war, was er selbst getan hatte und welche Grausamkeiten die Entführer begangen hatten. Aber warum war das alles passiert? Er musste seinen Vater finden, das wurde ihm nun klar. Schon vor etwa zwei Monaten hatte Kara erfahren, dass Manas seinen Vater keineswegs umgebracht hatte. Das war sowohl von den britischen Behörden als auch von seinem Vater selbst mit einem Brief bestätigt worden. Und Manas hatte mit seiner Behauptung gelogen, er habe Emma in dem Keller sofort nach seiner Flucht getötet. Es war alles eine Inszenierung gewesen. Das weckte in ihm die Hoffnung, auch Emma könnte noch am Leben sein. Und nach wie vor erschien es ihm unbegreiflich, dass Vater da irgendwo war, dass er atmete, aß, schlief …
    Doch warum ging ihm dieses Lächeln nicht aus dem Sinn, das über das Gesicht von Manas gehuscht war, kurz bevor er ihm Vaters Hinrichtung vorgespielt hatte? Dieses Lächeln ließ Kara nicht mehr los, so sehr er sich auch bemühte, es aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Eine Art Verdacht nahm in seinem Kopf Gestalt an, nichts weiter als eine leise Spur, wie der Hauch einer Erinnerung : Er wusste, dass sie existierte, bekam sie aber nicht zu fassen.

2
    Dienstag, 4. Oktober
    Kati Soisalo beobachtete von ihrem Platz im Café Strindberg die Menschen, die am Morgen durch das Einkaufszentrum »Kämp Galleria« zu ihren Arbeitsplätzen eilten. Um diese Jahreszeit sah man in Helsinki kaum Touristen. Das war auch kein Wunder, denn die Stadt zeigte sich von ihrer kalten, regnerischen und dunklen Seite. Mit der einen Hand hielt sie ihre Kaffeetasse, mit der anderen tastete sie über die Narbe unter ihrem rechten Ohr. An dieser Stelle war zwei Monate zuvor die Kugel in ihren Kopf eingedrungen. Fast den ganzen August hatte sie in halb Europa nach Spuren ihrer vor drei Jahren in Dubrovnik entführten Tochter gesucht und dabei auch erfahren, dass ihr Exmann Jukka Ukkola wusste, wo sich Vilma befand. Gerade als sie das aus ihm herausholen wollte, war ein serbischer Hitman eines Menschenhändlerringes in Ukkolas Haus aufgetaucht und hatte ihr mit seiner 9-mm-Pistole eine Kugel in den Hinterkopf gejagt.
    Die Stelle mit der Narbe war immer noch kahl. Doch ihr Haar, das man Mitte August im Krankenhaus abrasiert hatte, war gewachsen und immerhin schon wieder ein paar Zentimeter lang. Sie wusste, dass sie wie eine echte Outsiderin aussah: Sie war ohnehin schon dünn gewesen und hatte im Krankenhaus noch fast zehn Kilo und zugleich den größten Teil ihrer weiblichen Formen verloren, ihre Wangenknochen traten deutlich hervor, und die Sachen hingen an ihr, als wären sie drei Nummern zu groß. Aber ihr Äußeres interessierte sie herzlich wenig, Sorgen machte sie sich vielmehr um ihr Seelenleben. Neuerdings redete sie in Gedanken mit ihrer Tochter. Anfangs hatte sie nur ein
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