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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee
Autoren: dtv
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den Fußboden, lehnte sich an den Küchenschrank, stützte die Ellenbogen auf die Knie und strich sich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Stirn. Warum saß sie so in ihrer eigenen Küche? Wie angenagelt, als drückte eine unsichtbare Hand sie auf den Küchenfußboden?
    Manchmal überlegte sie, ob sie nicht einfach Hugo und Patrik an die Hand nehmen und zu den sechzig Wohnungen gehen sollte, klingeln und   … Nur – was sollte sie sagen? Würden die Menschen überhaupt die Tür aufmachen, so misstrauisch, wie alle nach der Schießerei unten an der Schule waren? Zum Glück war dabei niemand verletzt worden, aber der Nachhall lag noch lange über der Gegend.
    Die Frau ein Stockwerk höher war mit ihren beiden Kindern gerade aus dem Bus ausgestiegen, als es passierte. Sie |24| wusste, wie Schüsse klingen, und hatte das Kleinste auf den Arm und das andere an die Hand genommen. Sie war mit ihnen durch verwelktes Gras und Gestrüpp bis in den schützenden Wald gerannt. Sie hatte dort Schutz gesucht, wie Menschen das in unruhigen Zeiten immer getan haben. Eine Gruppe Orientierungsläufer, die Markierungen für den nächsten Hindernislauf aufstellten, fanden sie am nächsten Morgen. Glücklicherweise war es eine milde Nacht gewesen.
    Ein Artikel über sie hatte in der Zeitung gestanden. Kurze Zeit hatte die Wohnanlage ihren eigenen Promi.
    Würde die Frau aufmachen, wenn Eva klingelte? Oder Pär, der alleinstehende Mann, der jeden Morgen mit einem gequälten Gesichtsausdruck angeradelt kam, aber Eva stets mit einem strahlenden Lächeln begrüßte, wenn sie sich auf dem Hof begegneten. Würde er seine Tür öffnen?
    Eva hatte sich mit ihm unterhalten. Er saß immer auf der Bank bei dem kleinen Spielplatz und sah seinem fünfjährigen Sohn zu, der unermüdlich Sandburgen baute. Manchmal war der Sohn weg, und Eva vermutete, dass er dann bei seiner Mutter war. Pär kam aus Nordschweden. Das war alles, was sie von ihm wusste.
    Die Frau über ihr kam aus Südeuropa. Von Tuzla hatte sie gesprochen, aber auch noch den Namen eines Dorfs erwähnt, an den Eva sich allerdings nicht mehr erinnerte.
    Sie hatte zusammen mit fünfundsiebzig anderen Familien in einem Gebäude gelebt. Eva stellte sich vor, wie alle diese Menschen aus den unterschiedlichen Himmelsrichtungen gekommen waren, wie sie ein ganzes Leben, Familie, Freunde hinter sich gelassen hatten, um in einem Mietshaus am Rand von Uppsala zu landen.
    Einem Stadtrand, wo man nachts den klagenden Ruf des Käuzchens aus dem Wald hören konnte.
    Früher hatte sie nicht so viel über die Umgebung gegrübelt. Das hatte erst nach der Trennung von Jörgen angefangen. |25| Es kam ihr so vor, als habe sie seitdem überhaupt erst die Möglichkeit, nachzudenken. Als sie zusammenlebten, schien Jörgen alle Zeit und allen Sauerstoff zu verbrauchen und jeglichen Raum mit seinem ewigen Gerede und seinem polternden Lachen auszufüllen. Manche meinten sogar, er sei krank, sein ununterbrochenes Reden habe etwas Manisches und beruhe auf der fixen Idee, Stille sei gleichbedeutend mit Bedrohung. Aber Eva wusste es besser. Das lag in der Familie, sein Onkel und sein Großvater waren genauso.
    Vielleicht litt er an zu großem Selbstvertrauen? Das Problem war, dass er meinte, die Nahrung für diese Selbstsicherheit aus seiner Umgebung und eben auch aus Eva beziehen zu können. Um sich selbst zu stärken, saugte er sie aus wie ein Bienenwolf.
    Manchmal tat er ihr leid, aber nur manchmal und mit der Zeit immer seltener. Als sie beim Anwalt saßen, um die Scheidung zu diskutieren, empfand sie nur noch Müdigkeit und Verachtung. Jörgen verhielt sich wie immer, als habe er nicht verstanden, dass man sich zusammengesetzt hatte, um die Bedingungen der Trennung und die Sorgerechtsregelung für die Kinder zu diskutieren.
    Der Jurist unterbrach Jörgens Redeschwall, indem er ihn fragte, ob er wirklich das Geld hätte, weiter in der Wohnung zu leben, hoch verschuldet, wie er war. Da wurde er still und warf Eva einen erschrockenen Blick zu. Ihr war klar, dass er nicht in erster Linie aus ökonomischen Gründen so erschrocken war, sondern weil er urplötzlich begriffen hatte, dass er in Zukunft allein leben sollte.
    Jedes zweite Wochenende kam Jörgen und holte Patrik und Hugo ab. Eva baute eine Mauer aus Gleichgültigkeit und Misstrauen gegenüber seinem Gefasel auf, glücklich, allem entkommen zu sein. Doch sie passte auf, niemals boshaft oder ironisch zu reagieren. Er beklagte sich mehrfach, er und die
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