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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee
Autoren: dtv
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der Bruder. »Die haben mir zehntausend Dollar versprochen, selbst wenn ich geschnappt würde. Sie wollten dafür sorgen, dass Maria das Geld bekommt.«
    Als er den Namen der Mutter erwähnte, senkte Manuel den Blick.
    |34| »Zehntausend Dollar«, wiederholte er still, wie um die Menge des Geldes abzuschmecken, und übertrug das sofort auf Pesos, einhundertzehntausend.
    »Das sind mehr als siebentausend Stunden Arbeit«, sagte er und versuchte auszurechnen, wie vielen Jahren das entsprach.
    »Wie haben sie dich geschnappt?«
    »Auf dem Flugplatz. Sie hatten einen Hund.«
    »Hast du der Polizei was gesagt?«
    Patricio schüttelte den Kopf.
    »Warum nicht? Du würdest schneller rauskommen.«
    Bisher hatten sie Patricios harte Strafe noch nicht berührt.
    »Ich glaube, das funktioniert hier nicht so«, sagte er bedrückt.
    »Das funktioniert doch überall«, entgegnete Manuel heftig. Die passive Haltung des Bruders regte ihn immer mehr auf.
    »Nicht in Schweden.«
    Manuel versuchte es auf andere Weise.
    »Vielleicht kannst du Erleichterungen bekommen, größere Zelle, besseres Essen?«
    Der Bruder lächelte, sah aber trotzdem immer noch traurig aus.
    »So gut wie hier habe ich in meinem ganzen Leben nicht gegessen«, sagte er. Aber Manuel glaubte ihm nicht.
    »Sooft ich darf, gehe ich in die Kapelle. Ein Priester kommt, und wir beten zusammen. Das ist eine sonderbare Kirche«, fuhr er wie in Gedanken fort, verstummte aber plötzlich.
    »Wieso?«
    »Es gibt hier alle Religionen. Wir sind hier mehr als zweihundert Gefangene, und alle beten sie zu ihrem Gott. Das macht mir nichts aus. Ich spreche in der Kapelle immer mit einem Iraner. Er hat in den USA gelebt. In der Kirche gibt es eine Glocke, die kommt aus Jerusalem, und wenn ich sie ansehe, denke ich an das Leiden Christi, daran, dass meine Leiden |35| nichts sind verglichen mit dem, was Gottes Sohn auszustehen hatte. In der Kapelle werde ich ruhig.«
    Manuel sah den Bruder an. So viel hatte er früher nie über Religion geredet.
    »Aber das Geld?«, fragte er, um das Gerede über die Kapelle zu beenden. »Für zehntausend Dollar kann man es besser haben.«
    »Du weißt nicht, wie das funktioniert«, sagte Patricio. »Die Grünen würden mir hier nichts nützen. Es ist besser, wenn sie das Geld nach Hause schicken. Wie steht es zu Hause?«
    »Gut«, sagte Manuel.
    Patricio beobachtete ihn schweigend.
    »Ich werde das Dorf nie wiedersehen«, sagte er. »Ich werde hier sterben.«
    Manuel stand abrupt auf. Was sollte er bloß sagen, damit der Bruder nicht immer tiefer in die Depression sank? Im Brief hatte er davon gesprochen, sich das Leben zu nehmen, und dass ihn nur der Glaube davon abhielte. Wenn Manuel nun Patricio betrachtete, sah, wie sich dessen Blick und Körperhaltung verändert hatten, ahnte er das Ausmaß der Verzweiflung. Dass er an dem Tag, wenn der Glaube nachlassen und der Zweifel in den Körper des Bruders eindringen würde, verkümmern und sich vielleicht das Leben nehmen würde.
    Manuel glaubte, der Bruder bereitete ihn und vielleicht auch sich selbst mit seinen Worten unbewusst auf eine solche Lösung vor.
    »Natürlich kann es dir hier mit Geld besser gehen«, wiederholte er.
    »Um Drogen zu kaufen, oder wie?«
    »Nein, das hab ich nicht gesagt!«
    »Sag mir eines   …«
    »Patricio, du bist fünfundzwanzig Jahre und   …«
    »Sechsundzwanzig. Ich hatte gestern Geburtstag.«
    Unter dem Blick des Bruders verstummte Manuel.
     
    |36| »Patricio, Patricio, ach, mein Bruder«, murmelte Manuel, als er wieder auf dem Parkplatz neben dem Mietwagen stand. Er hatte es kaum fertiggebracht, das Gefängnis zu verlassen. Er starrte das Gebäude an, versuchte sich vorzustellen, wie der Bruder durch endlose Korridore zurück zu seiner Zelle eskortiert wurde und wie die massive Tür hinter ihm zufiel.
    Es war, als gäbe es den Bruder nicht. Er war hinter Mauern aus Beton versteckt, von allen vergessen, außer von den Wächtern und von ihm, Manuel.
    Patricio hatte sich verändert, und seine Resignation hatte Manuel schockiert. Er schien nichts tun zu wollen, um seine Situation zu verbessern. An das Gerede, dass es ihm gut ginge, glaubte Manuel keinen Augenblick. Zehntausend Dollar würden die Bedingungen verbessern, davon war er überzeugt. So war es in Mexiko, und die Menschen waren überall auf der Welt gleich. Aber Patricio hatte nichts getan, um an das Geld zu kommen.
    Manuel faltete den Zettel auseinander, den Patricio geschrieben hatte, und las den Namen des
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