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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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gehen.
    »Können Sie wirklich Lateinisch, Herr Sorel?« begann sie von neuem, indem sie stehen blieb. In all ihrem Glück hatte sie mit einem Male tödliche Angst, es könnte doch nicht so sein.
    Ihre Frage verletzte Julians Stolz. Das Entzücken, in dem er eine Viertelstunde gelebt hatte, war dahin.
    »Gewiß, gnädige Frau«, erwiderte er, wobei er sich Mühe gab, gleichgültig auszusehen. »Ich verstehe Lateinisch ebensogut wie der Herr Pfarrer; ja, wie er manchmal zu sagen beliebt, sogar besser.«
    Frau von Rênal fand, Julian sähe jetzt recht böse aus. Er stand zwei Schritte von ihr entfernt. Dicht an ihn herantretend, flüsterte sie ihm zu: »Nicht wahr, in den ersten Tagen werden Sie meine Kinder nicht schlagen, auch wenn sie ihre Aufgaben nicht können?«
    Beim Klange der sanften, fast flehentlichen Worte einer so schönen Frau vergaß Julian, was er seiner Würde als Lateiner schuldete. Frau von Rênals Gesicht war ganz nahe dem seinen. Er spürte den leisen Duft weiblicher Sommerkleider. Das verwirrte den armen Bauernjungen im höchsten Maße. Er ward feuerrot, und schweratmend sagte er mit bebender Stimme: »Fürchten Sie nichts, gnädige Frau! Ich werde Ihnen in allem folgsam sein!«
    Erst jetzt, nachdem sie keine Sorge mehr um ihre Kinder hatte, fiel ihr auf, daß Julian ein sehr schöner Mensch war. Seine fast weiblichen Züge und seine verlegene Miene machten auf sie, die selbst so außerordentlich scheu und schüchtern war, durchaus keinen lächerlichen Eindruck. Im Gegenteil, das echt Männliche, das man gewöhnlich von Mannesschönheit verlangt, hätte Frau von Rênal Furcht eingeflößt.
    »Wie alt sind Sie, Herr Sorel?« fragte sie.
    »Bald neunzehn, gnädige Frau!«
    »Mein Ältester ist elf Jahre«, erzählte sie, nunmehr völlig wieder im Gleichgewicht. »Er könnte beinahe noch Ihr Spielkamerad sein. Sie werden ihm Vernunft beibringen. Sein Vater hat ihn einmal strafen wollen, da ist das Kind eine volle Woche krank gewesen. Und doch war es bloß ein ganz leichter Schlag...«
    »Wie anders ist es mir doch ergangen!« dachte Julian bei sich. »Noch gestern hat mich mein Vater geschlagen. Die reichen Leute haben es gut!«
    Frau von Rênal glaubte bereits, in der Seele Julians bis in die geringsten Nuancen Bescheid zu wissen. Sie deutete die Betrübtheit, die ihn sichtlich ergriffen hatte, für Schüchternheit und wollte ihn ermutigen.
    »Wie ist Ihr voller Name, Herr Sorel?« fragte sie, mit einer Innigkeit im Ton, deren Zauber Julian empfand, ohne sich sagen zu können, warum.
    »Ich heiße Julian Sorel, gnädige Frau. Mir ist bange, weil ich zum ersten Male in meinem Leben ein fremdes Haus betrete. Darum bedarf ich Ihrer Fürsprache und in den ersten Tagen in vielen Dingen Ihrer Nachsicht. Ich bin nie in die höhere Schule gegangen. Dazu war ich zu arm. Auch habe ich nie mit andern Menschen gesprochen, außer mit dem Stabsarzt, einem Verwandten von uns. Er war Ritter der Ehrenlegion ... Und mit dem Herrn Pfarrer Chélan. Er wird Ihnen Gutes über mich sagen. Meine Brüder haben mich immer verprügelt. Denen dürfen sie keinen Glauben schenken, wenn sie mich schlechtmachen! Verzeihen Sie mir meine Fehler, gnädige Frau! Ich werde nie mit Absicht etwas Schlechtes tun.«
    Während dieser langen Rede gewann Julian seine Selbstbeherrschung wieder. Er schaute Frau von Rênal an. Wirkliche angeborene Anmut ist allgewaltig, zumal wenn sie einem Menschen eigen ist, der gar nicht an sie denkt. Julian, der sehr wohl wußte, was Weibesschönheit ist, hätte in diesem Augenblick geschworen, Frau von Rênal sei erst zwanzig Jahre alt. Urplötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, ihr die Hand zu küssen. Gleich darauf erschrak er freilich über sich selber. Aber dann wieder sagte er sich: »Es wäre feig von mir, wenn ich eine mir vielleicht nützliche Tat nicht ausführte. Es wird die Mißachtung verringern, die diese schöne Frau gegen mich armen Burschen, der eben der Sägemühle entronnen ist, wahrscheinlich hegt.« Sein Mut wuchs wohl ein wenig, weil er sich erinnerte, daß seit einem halben Jahre bisweilen sonntags von hübschen Mädchen hinter ihm getuschelt ward, er sei ein hübscher Kerl .
    Wie er so mit sich kämpfte, unterwies ihn Frau von Rênal mit ein paar Worten über die Art, wie er sich bei den Kindern einführen solle. Die Gewalt, die er sich antat, machte ihn von neuem leichenblaß. Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus: »Gnädige Frau, niemals werde ich Ihre Kinder
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