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Ronja Räubertochter

Ronja Räubertochter

Titel: Ronja Räubertochter
Autoren: Astrid Lindgren
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so lange, bis ein neuer Tag ohne Nebel kommt.
    Da hörte sie ihn aus dem Nebel rufen: »Ronja!«
    Schau an, plötzlich wußte er auch, wie sie hieß! Jetzt war sie , nicht länger nur eine Räubertochter. Und wieder rief er: »Ronja!«
    »Was willst du?« schrie sie zurück. Aber da hatte er sie schon eingeholt.
    »Dieser Nebel macht mir ein bißchen angst«, sagte er. »So, du hast also Angst, daß du nicht in dein Diebsnest zurückfindest. Dann mußt du wohl mit den Füchsen den Bau teilen, du bist ja so sehr fürs Teilen!« Birk lachte.
    »Du bist härter als Stein, Räubertochter! Aber du findest leichter zur Mattisburg zurück als ich. Darf ich mich nicht an einem Zipfel deines Kittels festhalten, bis wir aus dem Wald sind?« »Das läßt du hübsch bleiben«, sagte Ronja, löste aber ihren Lederriemen, der ihm schon einmal das Leben gerettet hatte, und reichte ihm das eine Ende.
    »Hier! Aber halt eine Riemenlänge Abstand von mir, das rat ich dir!«
    »Wie du willst, grimmige Räubertochter«, sagte Birk. Und dann begannen sie ihre Wanderung. Der Nebel umschloß sie dicht von allen Seiten, und sie gingen schweigend - mit einer Riemenlänge Abstand, wie Ronja es befohlen hatte. Jetzt durfte man nicht vom Pfad abweichen, der kleinste Fehltritt im Nebel konnte in die Irre führen, das wußte Ronja. Dennoch hatte sie keine Angst. Mit Händen und Füßen tastete sie sich vorwärts, Steine, Bäume und Büsche waren ihre Wegzeichen. Es ging zwar langsam, aber bestimmt würde sie daheim sein, ehe Lovis das Wolfslied sang. Angst brauchte sie nicht zu haben.
    Und doch, eine seltsamere Wanderung hatte sie nie gemacht. Es war, als sei alles Leben im Wald erstorben und erloschen,und ihr wurde so beklommen zumute.
    War dies ihr Wald, den sie kannte und liebte? Warum war es darin so still und unheimlich? Und was verbarg sich in den Nebelschwaden? Irgendwas war dort etwas Unbekanntes und Gefährliches, aber sie wußte nicht, was, und das ängstigte sie. Gleich bin ich zu Hause, dachte sie, um sich zu trösten. Gleich liege ich in meinem Bett und höre Lovis das Wolfslied singen.
    Doch es tröstete sie nicht. Ein Entsetzen stieg in ihr hoch, und eine Angst packte sie wie nie zuvor im Leben. Sie rief nach Birk, aber es kam nur ein kläglicher Laut heraus. So schauerlich klang er, und ihr Entsetzen wurde noch größer. Ich verliere hier noch den Verstand, dachte sie. Das wird mein Ende sein! Da drangen tief aus dem Nebel ein paar leise, zart klagende Töne, da erklang ein Gesang, und dieser Gesang war so wundersam. Noch nie hatte sie Ähnliches gehört, oh,wie schön er klang, wie diese Töne ihren Wald mit Lieblichkeit erfüllten! Und sie nahmen ihr alle Furcht, sie trösteten sie. Ganz still stand sie da und ließ sich trösten. Wie schön es war! Und wie der Gesang lockte und zog! Ja, sie spürte, daß die, die dort sangen, wünschten, sie solle den Pfad verlassen und ihren Locktönen in den Nebel hinein folgen.
    Der Gesang schwoll an. Er ließ ihr Herz erbeben, und plötzlich vergaß sie das Wolfslied, das zu Hause auf sie wartete. Alles vergaß sie. Jetzt wollte sie nur zu denen gelangen, die aus dem Nebel nach ihr riefen.
    »Ja, ich komme!« rief sie und ging ein paar Schritte vom Weg fort. Doch da ruckte es so heftig am Riemen, daß sie hinfiel. »Wo willst du hin?« schrie Birk.
    »Wenn du dich von den Unterirdischen locken läßt dann bist du verloren, das weißt du!« Die Unterirdischen, ja, von ihnen hatte sie gehört. Sie wußte, daß sie nur bei Nebel aus ihren dunklen Tiefen in den Wald hinaufstiegen. Noch nie war ihr eines dieser Wesen begegnet und doch war sie jetzt bereit ihnen zu folgen, wohin es auch ging. Mit ihren Gesängen wollte sie leben, auch wenn sie für immer unter der Erde bleiben müßte.
    »Ja, ich komme!« rief sie wieder und strebte fort. Aber da war Birk schon bei ihr und hielt sie fest.
    »Laß mich los!« schrie sie und schlug wild um sich. Aber er hielt sie fest.
    »Mach dich nicht unglücklich«, sagte er. Doch sie hörte ihn nicht wegen des Gesanges. Er war jetzt so mächtig, daß er den ganzen Wald mit Brausen erfüllte und in ihr eine unwiderstehliche Sehnsucht weckte.
    »Ja, ich komme!« rief sie noch einmal und kämpfte mit Birk, um freizukommen.
    Sie wand sich und zerrte, sie kratzte und schrie und flehte, und schließlich biß sie ihn in die Wange, aber er hielt sie fest.
    Lange hielt er sie fest. Und plötzlich lichtete sich der Nebel ebenso schnell, wie er gekommen war. Im selben
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