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Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Titel: Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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Ich will doch nichts Böses. Sehen Sie, wir schreiben genauso über Dörfer, die zu 95 Prozent SPD wählen, so etwas gibt es doch auch ...« Das ist nur dahergesagt, um die Stimmung zu lockern. In Wirklichkeit gibt es solche Dörfer nicht.
    Frau Neidhart antwortet: »Fahren Sie halt in ein SPD-Dorf.«
    Im Archiv finden die Kollegen den einzigen Text, der weltweit jemals in einem größeren Blatt über Gerstengrund erschienen ist. Es ist ein sehr subjektiv verfasster Artikel der tageszeitung , geschrieben im Jahr 2000. Der Artikel gipfelt in dem Satz: »Gerstengrund, unbewohnbar wie der Mond.« Und Antonius Schütz hatte dem Verfasser sogar nichtsahnend seinen Kuhstall gezeigt.
    Die Fahrt von Berlin nach Gerstengrund dauert, wie sich am nächsten Tag zeigt, fünfeinhalb Stunden. Der Ort ist nicht einmal in meinem alten DDR-Atlas verzeichnet. Geisa und Gerstengrund befinden sich weit weg von jedem Autobahnanschluss, in einer Gegend, wo auf der tischdeckengroßen ADAC-Karte von Thüringen lediglich einige gleichrangige Nebenverkehrsstrecken und keine einzige Hauptstraße eingezeichnet sind. Hinter Geisa führt eine Stichstraße in ein Tal hinein, das, nach den Dörfern Kranlucken und Zitters, in Gerstengrund endet. Kein Durchgangsverkehr. Keine Zufallsbesucher. Nahende Autos von weit her sichtbar. Gerstengrund ist wahrscheinlich einer der abgelegensten Orte von Deutschland.
    Diese Gegend gehörte seit 817 zum Besitz des Bistums Fulda. Wenn die Leute reden, klingen sie fast hessisch. Dass Geisa und Gerstengrund überhaupt zur DDR gehört haben, hängt mit dem Wiener Kongress von 1815 zusammen, der Geisa den Fuldaer Bischöfen weggenommen und dem Großherzogtum Sachsen-Weimar zugeschlagen hat. Im Rathaus von Geisa steht auf einer Tafel, dass es sich hier um die »westlichste Stadt des Warschauer Paktes« gehandelt hat. Zu den berühmten Söhnen gehört der Moosforscher Adalbert Geheeb. Auffällig ist, dass man in den Dörfern fast keine Spuren der DDR-Zeit mehr findet. Alles neu, alles proper. Hier hat Helmut Kohl recht behalten, hier blüht die Landschaft, wenn auch nur deshalb, weil der Westen mit seinen Arbeitsplätzen direkt vor der Haustür liegt.
    In Gerstengrund hat übrigens auch schon zu DDR-Zeiten die CDU den Bürgermeister gestellt, die Ost-CDU natürlich. Nicht seit 1990, sondern seit Jahrzehnten regiert die CDU. Die CDU war in Gerstengrund sozusagen gleichzeitig die SED. Vor 1933 regierte die katholische Zentrumspartei.
    Als ich in das Dorf fahre, zwanzig eng beieinanderstehende Bauernhäuser vielleicht, merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Auf dem Auto steht riesig der Name der Zeitung, es ist ein Dienstwagen. Alle Leute müssen sofort denken: Die Zeitung aus Berlin ist wieder da. Die Gerstengrundkiller kommen zurück. Unbewohnbar wie der Mond. Also wende ich und verstecke das Auto im Wald, einen Kilometer entfernt, unter einem Fliederbusch. Dann gehe ich zu Fuß, als Wanderer, nach Gerstengrund.
    Die Handvoll Leute, die vorher zu sehen waren, eine alte Frau, ein Bauer, ein Junge mit Anorak, sind alle verschwunden. Das Dorf ist plötzlich wie ausgestorben. Ein Geisterdorf.Klar: Antonius Schütz und seine Schwester haben das Auto gesehen und zeigen ihre Macht.
    Noch etwas ist anders an Gerstengrund. Man braucht eine Weile, bis man es merkt. An dem prächtigsten Bauernhaus: ein Wandgemälde, das eine Kuhherde zeigt, mit der Jahreszahl »1992«. Vor der Kapelle in der Dorfmitte ragt ein gewaltiges Steinkreuz zum Himmel. »Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.« In einem Garten steht eine steinerne Mutter Gottes, darunter: »Maria mit dem Kinde lieb, uns allen deinen Segen gib.« Ein paar Meter weiter, noch mal Maria mit dem Kinde. »O Jesu! Durch deine hl. Wunden erbarme  ...«, der Rest ist verwittert. Die Bauerngärten sind üppig, einer sogar mit einer kleinen Palme, in den Garagen stehen gepflegte Autos, untere oder mittlere Preisklasse, es gibt ein Gewächshaus, Wintergärten, einen Hasenstall, eine Fußballwiese, der Bus kommt achtmal täglich, Hühner laufen frei herum, vor dem Dorf grasen Pferde. Es sind keine Satellitenschüsseln zu sehen, keine Werbung, kein Straßenverkehr und natürlich keine Wahlplakate. Wozu auch? Das Dorf wirkt nicht wie ein Dorf vor 100 Jahren, allein schon wegen der Autos, aber es wirkt auch nicht wie ein Dorf von heute.
    Es ist das perfekte Idyll. Vielleicht ist Gerstengrund das schönste Dorf Deutschlands. Wie der Mond? Dann möchte ich auf dem Mond
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