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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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fleischigen Lippen geblieben ist und das unverständliche Geräusch der fremden, von uns selbst gemurmelten Sprache. Ja, und dann noch der Anblick, den ich über die Schultern von Onkel Lajos hinweg durch das Fenster hatte: Gegenüber eilte gerade die größere der Schwestern über den Gang im Stockwerk über uns zu ihrer Wohnung. Ich glaube, ich verhedderte mich im Text ein bisschen. Doch am Schluss des Gebets schien Onkel Lajos zufrieden, und auf seinem Gesicht war ein Ausdruck, dass auch ich schon beinahe das Gefühl hatte: Tatsächlich, wir haben etwas für meinen Vater getan. Und das war am Ende wirklich besser als zuvor, mit diesem belastenden und fordernden Gefühl.
    Wir kehrten in das Zimmer auf der Straßenseite zurück. Es dämmerte. Wir haben die mit Verdunklungspapier verklebten Fensterflügel vor dem bläulichen, dunstigen Frühlingsabend draußen geschlossen. Damit waren wir ganz im Zimmer eingesperrt. Der viele Lärm ermüdete mich. Und auch der Zigarettenrauch biss mir schon in die Augen. Ich musste viel gähnen. Die Mama meiner Stiefmutter hat den Tisch gedeckt. Sie selbst hatte das Abendessen mitgebracht, in ihrer großen Handtasche. Sie hatte sogar Fleisch dazu besorgt, auf dem Schwarzmarkt. Das hatte sie erzählt, als sie ankam. Mein Vater hat ihr das Geld dafür bezahlt, aus seiner ledernen Brieftasche. Wir saßen schon alle beim Abendessen, als auf einmal auch noch Herr Steiner und Herr Fleischmann gekommen sind. Auch sie wollten sich von meinem Vater verabschieden. Herr Steiner fing gleich damit an, «dass sich keiner stören lassen» solle. Er sagte: «Gestatten, Steiner. Bitte sitzen zu bleiben.» An den Füßen hatte er auch jetzt die zerschlissenen Pantoffeln, unter der offenen Weste wölbte sich sein Bauch, und auch den ewigen, übelriechenden Zigarrenstummel hatte er im Mund. Er hat einen großen roten Kopf, auf dem die kindlich gescheitelte Frisur seltsam wirkt. Herr Fleischmann verschwand fast daneben, denn er seinerseits ist winzig, von sehr gepflegtem Äußeren, und er hat weißes Haar, eine gräuliche Haut, eine eulenartige Brille und einen immer etwas besorgten Ausdruck im Gesicht. Er machte an Herrn Steiners Seite wortlos Verbeugungen und rang die Hände, als wolle er sich entschuldigen, für Herrn Steiner, so schien es. Da bin ich allerdings nicht sicher. Die beiden Alten sind unzertrennlich, auch wenn sie sich fortwährend in den Haaren liegen, denn es gibt keine Frage, in der sie sich einig wären. Sie haben nacheinander meinem Vater die Hand gedrückt. Herr Steiner hat ihm auch noch auf die Schulter geklopft. Er nannte ihn «alter Junge», und dann hat er seinen alten Kalauer losgelassen: «Nur immer den Kopf runter und nie die Verzagtheit verlieren.» Und er sagte – worauf auch Herr Fleischmann heftig nickte –, dass sie sich weiterhin um mich und die «junge Frau» (wie er meine Stiefmutter nannte) kümmern würden. Er zwinkerte mit seinen winzigen Äuglein. Dann hat er sich meinen Vater an den Bauch gedrückt und ihn umarmt. Als sie weg waren, ist alles im Geklapper der Bestecke, im Gemurmel der Stimmen, im Dunst der Speisen und dichten Tabakrauch erstickt. Jetzt drangen nur noch hin und wieder zusammenhanglose Bruchstücke von Gesichtern und Gebärden zu mir, die sich sozusagen aus dem Nebel um mich herauslösten, insbesondere der zittrige, knochige gelbe Kopf der Mama meiner Stiefmutter, wie sie auf jeden Teller aufpasst; dann die abwehrend erhobenen Hände von Onkel Lajos, der kein Fleisch will, weil es vom Schwein ist und die Religion das verbietet; die Pausbacken der Schwester meiner Stiefmutter, ihre mahlenden Kiefer und tränenden Augen; dann taucht unerwartet der kahle, rosige Schädel von Onkel Vili in den Lichtkreis der Lampe, und ich höre Fetzen von neuen zuversichtlichen Erklärungen; des weiteren erinnere ich mich an die feierlichen, in völliger Stille aufgenommenen Worte von Onkel Lajos, mit denen er Gottes Hilfe in der Angelegenheit erbittet, dass «wir in Bälde alle wieder gemeinsam am Familientisch sitzen dürfen, in Frieden, Liebe und Gesundheit». Meinen Vater sah ich kaum einmal, und auch von meiner Stiefmutter drang nur eben so viel zu mir durch, dass man sich sehr viel und aufmerksam um sie kümmerte, fast schon mehr als um meinen Vater, und dass ihr einmal der Kopf wehtat und mehrere sie fragten, ob sie vielleicht eine Tablette möchte oder eine Kompresse: Sie wollte aber weder das eine noch das andere. Hingegen wurde ich in unregelmäßigen
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