Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richter 07

Richter 07

Titel: Richter 07
Autoren: Gulik
Vom Netzwerk:
Befriedigt nickte er. Das Fach war mit Briefen, Besuchskarten, beschriebenen und unbeschriebenen Umschlägen, quittierten Rechnungen und unbenutztem Briefpapier vollgestopft, davon einiges zerknüllt, anderes durch fettige Finger und Lippensalbe beschmutzt. Wie der Augenschein verriet, war die Kurtisane keine sehr ordentliche Person gewesen. Er trug die Schublade zum Tisch hinüber und leerte den Inhalt aus. Dann zog er einen Stuhl heran und begann die Papiere durchzusehen.
    Seine Vermutung mochte absolut falsch sein, trotzdem mußte er die Sachen einer Durchsicht unterziehen. Während des Festmahls in der »Kranichlaube« hatte die Blumenkönigin beiläufig erwähnt, daß der Akademiker ihr ein Fläschchen mit Parfüm als Abschiedsgeschenk geschickt hatte, das in einem Umschlag steckte. Sie hatte ihn gefragt, was für ein Parfüm es sei, worauf er geantwortet hatte: »Sorgt dafür, daß es seine Bestimmung erreicht.« Mit ihren Gedanken bei dem kostbaren Parfüm, mochte sie nicht beachtet haben, was er vor diesen Worten zu ihr gesagt hatte, und so erinnerte sie sich nur seiner letzten Worte, die sie als eine scherzhafte Anzüglichkeit auf die Parfümphiole auffaßte. Doch seine Worte klangen eher wie eine Anweisung als die Antwort auf ihre Frage. Eine Anweisung bezüglich einer anderen Hülle, die er in den Umschlag neben das Fläschchen gesteckt hatte. Vielleicht eine Botschaft oder ein Brief, den der Akademiker durch sie an eine dritte Person überbracht haben wollte.
    Nachlässig warf er geöffnete Briefe und Besuchskarten auf den Boden. Er fahndete nach dem ungeöffneten Umschlag. Endlich hatte er ihn gefunden. Er lehnte sich vor und hielt ihn dicht ans Licht. Der Umschlag war ziemlich schwer, er trug keine Adresse, sondern war beschrieben mit einem Gedicht in fester, eindrucksvoller Schönschrift. Es war ein Vierzeiler wie folgt:

    Dir laß ich diese Gabe, flüchtig nur, ein Hauch von Duft,
    So flüchtig, doch so süß wie Deiner Träume Wesenlosigkeit,
    Die Du mir gabst. Dies ist der letzte: schwebe er
    Erinnernd, duftschwer um den Ort verlaßner Lippen Seligkeit!

    Der Richter schob sein Käppchen zurück, zog eine Haarnadel aus seinem hochgeknoteten Schopf und schlitzte damit bedachtsam den Umschlag auf. Eine flache Phiole aus kunstvoll geschnittenem Jade mit einem Elfenbeinstöpsel glitt heraus. Ihr folgte ein zweiter, kleinerer Umschlag, den er begierig aufgriff. Er war fest versiegelt und, ebenfalls in des Akademikers Handschrift, adressiert an: »Seine Exzellenz Li Wee-tsching, Doktor der Literatur, ehemals Kaiserlicher Zensor etc. etc. zu dessen gnädiger Aufmerksamkeit.«
    Er schnitt ihn auf und fand darin einen Bogen Schreibpapier.

    »An den verehrten Vater: Euer unkundiger, unwürdiger Sohn erkennt, daß er Euren unbezwingbaren Mut und Eure eisenharte Willenskraft niemals erlangen kann. Daher kann er der Zukunft nicht die Stirn bieten. Nachdem er das erreicht hat, was für ihn den Gipfel seiner Laufbahn bedeutet, muß er von hier scheiden. Er hat Wen Yüan benachrichtigt, daß er nicht weiter mitmachen kann, deshalb ist es Wen überlassen, die weiteren Maßnahmen zu treffen. Da ich nicht unter Eure strengen Augen zu treten wage, schreibe ich diesen Brief, den ich durch die Kurtisane Herbstmond seiner hohen Bestimmung zukommen lasse. Der Anblick ihrer außerordentlichen Schönheit verklärte meine letzten Tage.
    Am fünfundzwanzigsten Tag des siebenten Monats, während des Totenfestes, kniet der unwürdige Sohn Liän nieder und vollzieht dreimaligen Stirnaufschlag.«

    Bestürzt lehnte sich Richter Di zurück und runzelte die Stirn. Der Briefstil war so knapp, daß es nicht leicht war, des Briefschreibers eigentliche Absicht herauszulesen.
    Der erste Absatz ließ durchblicken, daß der pensionierte Zensor Li, sein Sohn, der Akademiker, und der Kunsthändler Wen Yüan sich zu einem schändlichen Anschlag zusammengefunden hatten, daß aber dem Akademiker, seiner eigenen Meinung nach, im letzten Augenblick der Mut und die eiserne Willenskraft zur Durchführung des Vorhabens fehlte, wodurch er sich, unfähig, seines Vaters Weisungen zu befolgen, als letztem Ausweg zum Selbstmord getrieben sah. Das bedeutete aber, daß dieses Vorhaben viel ernsterer Natur war, als es ein kleines Komplott zur Vertreibung eines Vorstehers aus seinem Amt auf Grund einer abgekarteten Anschuldigung gewöhnlich zu sein pflegt. Der Himmel mochte wissen, welche schwerwiegenden Folgen hier im Spiele waren, ob es hier um Leben oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher