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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
Autoren: Alastair Reynolds
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mit Schiebermaterie in Berührung kommen.
    Naqi öffnete die wasserdichte Ausrüstungsbox und schob die Signalpistole und den Erste-Hilfe-Kasten beiseite, bevor sie die Kugel vorsichtig hineinlegte. Zu ihrem Entsetzen bekam das Glas sofort Sprünge, löste sich auf und setzte das Gift frei: kleine schwarze unregelmäßig geformte Körnchen, die aussahen wie verbrannter Zucker. Wenn das Boot sank, würde die Box früher oder später mit ihrem tödlichen Inhalt vom Ozean verschlungen werden. Sie überlegte, ob sie die Überreste mit der Signalpistole verbrennen sollte, aber die Gefahr, sie dabei auch in alle Winde zu verstreuen, war zu groß. Vielleicht hatte das Toxin nur eine begrenzte Lebensdauer, sobald es der Luft ausgesetzt wurde, aber darauf konnte sie sich nicht verlassen.
    Immerhin hatte Weir die dritte Kugel nicht ins Meer geworfen. Noch nicht. Sie hatte irgendetwas gesagt, was ihn zögern ließ.
    »Ihre Schwester?«
    »Sie kennen die Geschichte«, sagte Naqi. »Mina war konformal. Der Ozean hat sie vollkommen assimiliert, anstatt nur ihre Neuralmuster aufzuzeichnen. Man könnte sagen, er hat sie gekapert.«
    »Und sie glauben, sie wäre in irgendeiner intelligenten Form noch immer präsent?«
    »Jawohl, davon bin ich überzeugt. Und von anderen Schwimmern gibt es genügend Anekdoten, die beweisen, dass Konformale tatsächlich in einer kohärenteren Form überdauern als andere gespeicherte Muster.«
    »Mit Anekdoten können Sie mich nicht umstimmen, Naqi. Haben die anderen Schwimmer ausdrücklich von einer Begegnung mit Mina berichtet?«
    »Nein …«, gab Naqi zu. Sie war sicher, dass er eine Lüge sofort durchschaut hätte. »Aber sie hätten sie auch nicht unbedingt erkannt.«
    »Und Sie? Haben Sie selbst einmal zu schwimmen versucht?«
    »Das hätte mir das Schwimmercorps nicht gestattet.«
    »Das war nicht meine Frage. Sind Sie jemals geschwommen.«
    »Einmal«, gestand Naqi.
    »Und?«
    »Das zählt nicht. Es war damals, als Mina umkam.« Wieder hielt sie inne, und dann erzählte sie ihm, was geschehen war. »Wir hatten mehr Sprite-Aktivität beobachtet als jemals zuvor. Aber wir hielten es für einen Zufall …«
    »Das glaube ich nicht.«
    Naqi schwieg und konzentrierte sich darauf, das Boot zu steuern. Sie wollte Weir Zeit geben, seine Gedanken zu ordnen. Vor ihnen lag das offene Meer, aber sie wusste, dass sie in jeder Richtung binnen weniger Stunden eine Anhäufung von Knoten erreichen würden.
    »Angefangen hat alles mit der Rachlosen Pelikan«, begann er schließlich. »Vor hundert Jahren. Auf diesem Schiff befand sich ein Mann von Zion. Er ließ sich während des Aufenthalts auf Türkis absetzen, um in Ihrem Ozean zu schwimmen, und bekam auch Kontakt zu den Schiebern. Beim zweiten Mal war die Erfahrung noch intensiver. Beim dritten Mal wurde er vom Meer verschlungen. Er war ein Konformaler, genau wie Ihre Schwester. Sein Name war Ormazd.«
    »Sagt mir gar nichts.«
    »Auf seiner Heimatwelt ist das anders, das kann ich Ihnen versichern. Ormazd war ein Tyrann, der bei einer Konterrevolution gestürzt worden war und sich nun auf der Flucht befand. Er hatte Zion durch Mord und Betrug in seine Gewalt gebracht. Seine politischen Gegner ließ er in ihren Häusern verbrennen, während sie schliefen. Doch dann kam es zum Gegenschlag. Er konnte – mit einer Hand voll seiner engsten Verbündeten und Anhänger – gerade noch entkommen, bevor die Falle zuschnappte. Sie flüchteten mit der Rachloser Pelikan.«
    »Und Ormazd starb hier?«
    »Aber seine Anhänger überlebten und erreichten Haven, meine Welt. Und dort fassten sie Fuß, breiteten sich aus, verkündeten ihre Botschaft und warben neue Gefolgsleute. Ormazd war nicht mehr, aber das änderte nichts. Ganz im Gegenteil. Er war zum Märtyrer geworden: man verehrte ihn wie einen Heiligen. Die politische Bewegung entwickelte sich zum religiösen Kult. Die Vahishta-Stiftung ist nur der Deckmantel, hinter dem sich die Ormazd-Sekte verbirgt.«
    Naqi überlegte eine Weile, dann fragte sie: »Und welche Rolle spielt Amesha?«
    »Amesha ist Ormazds Tochter. Sie will ihren Vater zurück.«
    Ein rosaroter Blitz erhellte den Horizont. Eine Minute später folgte fast genau an der gleichen Stelle ein zweiter.
    »Sie möchte mit ihm kommunizieren?«
    »Mehr noch«, sagte Weir. »Sie und alle anderen wollen zu Ormazd werden. Sie wollen seine Neuralmuster in ihr Gehirn aufnehmen. Die Schieber sollen allen Anhängern der Sekte Ormazds Persönlichkeit aufprägen, sie
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