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Requiem für eine Sängerin

Requiem für eine Sängerin

Titel: Requiem für eine Sängerin
Autoren: Elizabeth Corley
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sich reißen konnte. Er schlug die Klauen in ihr mittlerweile scharlachrot gesprenkeltes T-Shirt; mit dem Schnabel berührte er sanft ihre Wange, um den Kopf zu drehen. Mit leeren blauen Augen blickte sie zu ihm auf. Ihr Kopf rollte zurück, hinterließ Blut und graue Masse auf den Felsen und blieb in einem unnatürlichen Winkel liegen. Sie lag reglos, es sei denn, eine Welle der steigenden Flut schlug über ihr zusammen und bewegte wie in einer Imitation des Lebens ihre Gliedmaßen. Sie war tot, immer tot.
     
    Zehn Nächte nachdem der Patient ihrer Obhut anvertraut worden war, wurde Schwester Sarah Evens durch einen Ruf von ihm aufgeschreckt. Bislang hatte er allen getrotzt; nicht gesprochen und Medikamente so hartnäckig verweigert, dass man seine Qualen am besten linderte, indem man ihn einfach in Ruhe ließ. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätte er längst tot sein müssen. Stattdessen saß er plötzlich aufrecht im Bett, und nicht das Fieber, sondern Aufregung färbte sein Gesicht rot.
    Noch erstaunlicher als seine Munterkeit war jedoch seine Bitte. Er verlangte nach einem Priester – einem katholischen obendrein –, und zwar unverzüglich. Eine Viertelstunde später kam der junge Priester herbeigeeilt, um ihm die Letzte Ölung zu geben, doch als er am Bett des sterbenden Mannes Platz nahm, kamen ihm Zweifel am Grund für den Ruf.
    Ja, es gab eine Seele hier, die er erretten musste; ja, der Mann würde seine Sünden beichten, bereuen und sich in Gottes Hände geben, aber doch nur unter einer kleinen Bedingung. Der Priester musste einen Brief schreiben, einen höchst wichtigen Brief, den der Mann ihm diktieren würde. Der Priester musste bei der Bibel schwören, dass der Brief dem Neffen des Mannes in England zugestellt würde. Es schien sich um eine unbedeutende Gefälligkeit zu handeln, doch der stechende Blick des Mannes, als er darauf bestand, dass der Priester die Hand auf das Heilige Buch legte und schwor, seinen Inhalt ebenso streng zu hüten wie eine Beichte, hätte ihm eine Warnung sein sollen.
    «Ich werde Ihren Brief schreiben, mein Sohn. Aber warum ist er so wichtig?»
    Auf dem Gesicht des alten Mannes erschien ein garstiges Lächeln. Sein Atem roch nach verwesenden Tieren.
    «Ich habe das Gesicht gesehen! Ich habe das Gesicht gesehen! Ich weiß, wer es war, und mein Neffe muss es erfahren – unverzüglich. Er wird wissen, was zu tun ist.»
    Für den Priester hörte sich das harmlos an, vielleicht ging es um eine Art Offenbarungserlebnis. Arglos legte er seinen Eid ab und begann, die letzten Worte des alten Mannes zu Papier zu bringen.

Das Haus war genau so, wie er es in Erinnerung hatte: Ein Betonweg führte zu einer billigen Tür, die einst butterblumengelb gestrichen gewesen, nun aber verwittert war und an saure Milch denken ließ.
    Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, überkam ihn ein so heftiger Kummer, dass er warten und den Kopf in die Hand stützen musste, bis der beinahe physische Schmerz nachließ. Fast auf dem Fuß folgte die altbekannte Wut, die ihn anspornte, über die Schwelle zu gehen und die dunkle, verwahrloste Diele zu betreten.
    Das Haus war ihm selbst im Halbdunkel vertraut. Ohne Umschweife ging er zur Küche, wo hin und wieder ein Schimmer der Abendsonne durch die Wolkendecke und schmutzige Fensterscheiben hereinfiel und einen Tisch mit Wachstuchdecke sowie einen maroden Stuhl erkennen ließ. Er setzte sich erschöpft, zog eine eselsohrige Schwarzweißfotografie aus der Tasche und strich behutsam über das Bild von vier lachenden Gesichtern. Vergangenheit, glückliches Lachen, hübsche Gesichter, und eines, das hübscheste, war für immer fort. Sie war unschuldig gestorben, ohne zu ahnen, wie sehr er sie geliebt hatte.
    Wer war schuld an ihrem Tod? Nicht er! Jahrelang hatte er geglaubt, er trage die Verantwortung. Jahrelang hatte er gearbeitet, gekämpft, getötet und damit vergeblich versucht, sein Gewissen zu beruhigen und die Erinnerung an sie zu tilgen. Jetzt wusste er, dass es nicht seine Schuld war. Der Brief, den er nicht erwartet und nicht gewollt hatte, machte alles klar. Er hätte sie nicht retten können – denn es hatte jemanden gegeben, der wollte, dass sie starb.
    Wer das war, dessen konnte er noch nicht sicher sein, aber es waren Andeutungen gemacht worden, und die reichten aus, um ihn wieder auf die Spur zu bringen. Die Liste der Verdächtigen konnte nicht lang sein. Er wusste nicht, wer von ihnen es gewesen war, es konnten auch zwei gewesen
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