Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
plausibel.”
„Ich weiß nicht!” Ilse schien nicht überzeugt. „Mord aus negativen Gefühlen wie Hass und Wut, das kann ich verstehen. Aber aus Mitgefühl? Die Frau muss schon sehr verwirrt sein im Kopf, um so etwas zu tun.”
„Eben! Was wissen wir denn, was in deren Hirn vor sich geht. Helga hat doch gesagt, dass sie die Realität völlig verzerrt wahrnimmt.”
Während sie an ihrem Kaffee nippten, suchte jede für sich nach möglichen Erklärungen. Helga sprach ihre Gedanken als erste aus. „Wenn sie die Kinder nun schützen wollte? Schützen vor etwas, das in ihren Augen schlimmer ist als der Tod.”
„Was kann schlimmer sein als einem Kind das Leben zu nehmen?”
„Alle Kinder wurden von ihren Eltern mehr oder weniger allein gelassen”, erinnerte Ali, „und hatten eine ungewisse, wenn nicht sogar unerfreuliche Zukunft vor sich.”
„Richtig. Die Täterin muss in irgendeiner Form unter Vernachlässigung und deren Folgen gelitten haben oder noch leiden, daher ihre geistige Verwirrtheit. Vermutlich glaubt sie sogar, die Kinder zu erlösen. – Erinnere dich, Ali”, sagte Helga und runzelte die Stirn, „als du von der Fränzke kamst, hast du genau das ausgedrückt: ›Benjamin hat es hinter sich‹, sagtest du. Damit hast du dich besser in die Täterin versetzt, als uns damals klar war.”
„Nein! Nein! Ich meinte damit doch nur …” Verlegene Röte überzog Alis Gesicht. „Ich bin ziemlich religiös, wisst ihr, und ich glaube … ich meine, ich bin fest davon überzeugt, dass es Benni jetzt gut geht.”
„Ich weiß”, sagte Helga begütigend. „Aber warum sollte dieser Glaube nicht auch in einem total verwirrten Hirn existieren?”
„Hm, möglich wäre es”, stimmte Ilse zu. „Als Kind hat die Mörderin gelitten, jetzt hat sie Macht, sie kann andere vor dem gleichen schlimmen Schicksal bewahren – ihrer verrückten Meinung nach.” Nachdenklich fuhr sie mit ihren Fingern durch die Haare. „Dann zählen aber die Stadtstreicherinnen im Westpark zu den Hauptverdächtigen. Ihr Leben ist zweifellos hart und unerfreulich. Und sie kennen die Kinder, die sich regelmäßig im Park herumtreiben.”
„Gut genug, um zu wissen, dass deren Eltern keine Zeit für sie haben? Nein! Vergesst nicht, Opfer und Täterin kannten einander.” Helga schüttelte den Kopf.
„Du hast doch mal von einem Schlüsselerlebnis gesprochen”, gab Ilse zurück, die sich noch nicht von ihrer These trennen mochte. „Wenn ich mich recht erinnere, wurden vor ungefähr drei Monaten ein paar Obdachlose von Skins überfallen, und einer wurde dabei zu Tode geprügelt.”
„Ja richtig, aber das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Täterin zu den Obdachlosen gehört.”
„Nun mal langsam, das ist doch alles Theorie. Ihr konstruiert Verbindungen, für die es keinerlei Beweise gibt”, wehrte Ali ab. „Lasst uns der Reihe nach vorgehen. Wir wissen, dass die Mörderin in ihrer Kindheit Demütigungen ausgesetzt war und hilflose Ohnmacht empfunden haben muss. Wie kann daraus Liebe entstehen, die zum Töten zwingt? Das klingt verrückt – das ist verrückter als verrückt.”
„Die Täterin wurde gedemütigt, ja, aber nicht von dem Kind, das sie umbringt.”
„Eh?” Zwei Gesichter starrten Helga überrascht an.
„Erinnert euch, sie sieht in ihren Opfern jemand anderes. Nennen wir dieses Kind … äh, Jan. Sie hat Jan geliebt, so wie sie die Kinder liebt, die sie umbringt und in denen sie Jan zu sehen glaubt. Nehmen wir an, dass dieses Kind Jan von seiner Mutter vernachlässigt wurde, in einem Ausmaß, wie wir es uns nicht vorstellen können, und später als Erwachsener ein schreckliches Leben, womöglich auch ein schreckliches Ende gehabt hat. Um Jan davor zu bewahren, tötet sie Jan immer wieder neu – wenn sie Kinder sieht, die sie an Jan erinnern.”
„Soweit stimme ich zu, aber wer hat die Mörderin entwürdigt und erniedrigt, wenn nicht Jan?” Ohne hinzusehen ergriff Ali die Zigarettenschachtel, die wie üblich neben der Kaffeetasse lag. Entgegen aller Gewohnheit öffnete sie sie langsam, fast bedächtig.
„Eine dritte Person war beteiligt, ein Erwachsener, der das Mädchen ausgenutzt und emotional missbraucht hat. Vermutlich Vater oder Mutter. Es ist leicht, einem Kind Verantwortlichkeiten und Gewissensbisse einzureden. Emotionaler Missbrauch hinterlässt ebenso seine Spuren wie sexueller.”
„Mein Gott, das ist ja furchtbar. Wer tut einem kleinen Mädchen so etwas an?”, flüsterte Ali.
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