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RENAS VERSPRECHEN (German Edition)

RENAS VERSPRECHEN (German Edition)

Titel: RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Autoren: Rena Kornreich Gelissen , Heather Dune Macadam
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einzige Wache auf dem Turm. Keine SS-Frau, keine Aufseherin, keine Lagerälteste ist zu sehen. Wir stehen an der Lagerstra ss e und starren die Wache im Turm an, fragen uns, was wir tun sollen. Er steht als einziger zwischen uns und der Freiheit, und seine Waffe ist direkt auf uns gerichtet. Ich schaue auf die Uhr. Es ist zehn Uhr. Wie lange müssen wir warten, wo die Freiheit uns doch gleich hinter diesen Toren lacht?
    Eine Mutter und eine Tochter fassen den Entschlu ss , aufgrund ihres Hungers genügend Mut zu haben, auf den Kartoffelhaufen zuzugehen. Sie rennen durchs Lager auf das einzig E ss bare zu. Ein Gewehrschu ss zerfetzt das Herz des Mädchens. Sie bricht zusammen. Ihre Mutter schreit, rei ss t sich die Kleider auf und flucht Gott. Keine wagt es, sie zu trösten. Ein zweiter Schu ss zerfetzt ihr die Kehle. Wehklagen. Ihre Körper färben diesen fatalen Kartoffelberg. Der sü ss e Geschmack der Freiheit wird uns bitter im Mund.
    Endlich klettert der SS-Mann vom Wachturm und ver schwindet. Um elf Uhr schreien die Italiener aus dem Gefange nenlager vor unseren Zäunen: „Wir sind frei!“
    Sie haben Gummihandschuhe und Drahtscheren. „Kommt schon! Stürmt die Tore!“ Sie durchtrennen die Drähte, unter brechen den Strom und schaffen ein Loch, gro ss genug für uns, um hindurchlaufen zu können. Ich nehme Danka bei der Hand und ziehe sie mit durch den Zaun. Wir haben blutige Hände von den Stacheldrähten, die wir aus dem Weg räumen. Mein Pullover verfängt sich im Draht. Ich bleibe nicht stehen. Er rei ss t. Es ist mir egal.
    Plötzlich sind wir auf der Stra ss e. Wir blinzeln, können un seren Augen nicht trauen. Soldaten in Dunkelgrün und Olive, russische und amerikanische Soldaten kommen auf uns zu.
    „Wir sind frei!“ Weinend fallen wir einander in die Arme. „Wir sind frei!“ Mein Herz ist ein Stein in einem Strom von Tränen.
     
    Auf der Stra ss e verstreuen sich die Mädchen aus dem Lager. Ei nige Mädchen laufen dahin, andere dorthin, alle sind verwirrt, alle sind verloren, versuchen herauszufinden, welcher Weg nach Hause führt. Danka und eine kleine Gruppe von jungen Frauen sieht mich an, als sollte ich wissen, was zu tun ist.
    Wir gehen ein Stück weit, bis wir an eine Kreuzung kom men. Danka, Dina und ich halten an und schauen in beide Richtungen. Der eine Weg führt nach Osten zu den Russen und eventuell nach Polen; der andere zeigt nach Westen, zu den Amerikanern. Ich wei ss nicht, welchen ich einschlagen soll. Die Sonne strahlt golden, brennt sich durch die trüben Schleier in meinem Kopf. Mein Nebel lichtet sich langsam.
    Ich sehe Mamas Gestalt in der Feme. Ihr Kopftuch ist ihr heruntergerutscht, und ihr Arm winkt nun viel langsamer. Welchen Weg sollen wir gehen, Mama? … Sie rennt nicht mehr durch den Schnee; der lange Winter ist dahingeschmolzen, es ist Frühling. Geh nach Westen, Rena. Sie bindet ihr Kopftuch wieder um ihren Kopf und schickt mir einen gehauchten Ku ss . Geh nicht, Mama. Warte auf mich. Ich habe dir deine Kleine zurückgebracht! ...
    Leb wohl, Rena. Du bist eine gute Tochter. Ich stehe mitten auf dem Kreuzweg und winke dem Trugbild zu, das mich am Leben gehalten hat. Mama!
    Sie steht dort für einen kurzen Augenblick, den Arm noch immer in der Luft. Leb wohl. Ihr Bild zerfällt in tausend Lichtscherben. Meine Augen zucken vor Schmerz zusammen, als mir die Glassplitter von den Augen fallen. Der Traum ist vorbei. Es gibt niemanden mehr, zu dem wir nach Hause geben können.

NACHWORT
     
    Im amerikanischen Sektor wurden Dina, Rena und Danka von einem amerikanischen Major nach Ludwigslust gebracht. Er war so gerührt von ihrem Martyrium, da ss er sie in der besetzten Stadt in eine Villa brachte und der Haushälterin befahl, die Mädchen wie Königinnen zu behandeln, ihnen die besten Zimmer zu geben und das Frühstück ans Bett zu bringen. Diese Ruhepause war wie ein Traum, aber die wirkliche Welt war nicht weit; nach ein paar Tagen wurden sie in ein Flüchtlingslager und dann nach Holland geschickt. In Holland kamen sie in ein Krankenhaus und wären fast nach Deutschland zurückge schickt worden, weil sie keine Papie re hatten. Rena ging zum dienst habenden Offizier und flehte ihn auf Knien an, sie nicht mehr zurück nach Deutschland zu bringen. Er nahm sich ihres Falls gesondert an und schickte sie zum Holländischen Roten Kreuz, weil er hoffte, dort könnte man für die Mädchen eine Bleibe finden. (Man verlegte sie am Morgen, Dina wurde vom Rest der Gruppe
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