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Reisestipendien

Reisestipendien

Titel: Reisestipendien
Autoren: Jules Verne
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Muster-Verwalters, dem alle Geheimnisse des »Soll und Habens« geläufig sind und der die geringsten Einzelheiten der Buchführung kennt. War er in früherer Zeit in den Prüfungen in alten Sprachen prämiiert worden, so hätte er das jetzt bei einem Wettbewerb in der Buchführung oder in der Aufstellung eines Schulbudgets gewiß nicht weniger verdient.
    Höchst wahrscheinlich fiel Herrn Horatio Patterson auch die Direktion der Anstalt zu, sobald Herr Ardagh sich, nach Erwerbung eines genügenden Vermögens, davon zurückzog, denn die Antilian School war jetzt im besten Gedeihen und sie verblieb es jedenfalls auch unter den Händen, die so würdig waren, die wertvolle Erbschaft anzutreten.
    Horatio Patterson hatte jetzt seit einigen Monaten das vierzigste Lebensjahr überschritten. Mehr ein Mann der Studien als des Sports, erfreute er sich doch einer vortrefflichen Gesundheit, die er niemals durch irgendwelche Exzesse erschüttert hatte: er hatte einen guten Magen, ein regelmäßig arbeitendes Herz und Atmungsorgane ersten Ranges. Eine rücksichtsvolle, eher etwas verschlossene Natur, kam er nie aus dem seelischen Gleichgewicht, hatte es stets verstanden, sich weder durch Taten noch durch Worte zu kompromittieren, und war bei seiner gleichzeitig theoretischen und praktischen Lebensweisheit gar nicht im stande, jemand zu nahe zu treten. Das machte ihn auch höchst duldsam gegen andere… kurz, um eine ihm jedenfalls zusagende Bezeichnung anzuwenden: er war
sui compos
im höchsten Grade.
    Etwas über mittelgroß, doch schmächtig und mit ein wenig abfallenden Schultern, war Horatio Patterson in seinem Auftreten ziemlich linkisch und in seiner Haltung wenig elegant. Jedes mit besonderem Nachdrucke ausgesprochene Wort begleitete er gerne mit einer ausdrucksvollen Handbewegung. Obwohl ernst von Gesichtszügen, konnte er doch gelegentlich auch lächeln. Er hatte wasserblaue Augen, denen man die Kurzsichtigkeit anmerkte, weshalb er eine recht starke Brille trug, die ihm meist auf der Spitze der weit vorstehenden Nase saß. Auch mit den langen Beinen hatte er häufig seine liebe Not, hielt beim Gehen die Fersen zu nahe beieinander und setzte sich so ungeschickt nieder, daß man fürchten mußte, er werde von dem Sitze abgleiten, und ob er im Bette ein bequeme oder eine unbequeme Lage einnehme, das konnte der brave Mann nur allein wissen.
    Nun gab es auch eine jetzt siebenunddreißigjährige Mrs. Patterson, eine recht verständige Frau ohne jede Koketterie oder Hoffart. An ihrem Gatten fand sie nichts Lächerliches, und dieser wußte dagegen ihre Dienste zu schätzen, wenn sie ihn bei seinen Buchhaltungsarbeiten unterstützte. Wenn der Verwalter der Antilian School aber auch ein Zahlenmensch war, so darf man nicht glauben, daß er, trotz geringer Wertschätzung seiner Toilette. in seinem Äußern vernachlässigt wurde. Das wäre ein Irrtum. Es gab wohl kaum einen besser geknüpften Krawattenknoten als den seinigen, keine glänzendere Fußbekleidung als seine Lackleder-Halbstiefel, abgesehen von seiner Person nichts gleichmäßig steiferes als seinen Brustlatz, nichts tadelloseres als seine schwarzen Beinkleider, nichts besser geschlossenes als seine – der eines Geistlichen ähnliche – Weste und nichts sorgfältiger zugeknöpftes als seinen weiten Rock, der ihm bis über die Knie reichte.
    Mr. und Mrs. Patterson hatten in den Gebäuden der Anstalt eine sehr hübsche Wohnung inne. Deren Fenster lagen einerseits nach dem großen Hofe und anderseits nach einem Garten mit großen Bäumen, unter denen sich ein wohlgepflegter, angenehm frischer Rasen ausbreitete. Die Wohnung bestand aus einem halben Dutzend Räumen im ersten Stockwerke.
    Hierher begab sich Horatio Patterson nach seinem Besuche beim Direktor; er beeilte sich dabei aber nicht, um seine Entschlüsse erst reisen zu lassen, obwohl sie schließlich nur die wenigen Minuten alt waren, um die er seine Abwesenheit verlängert hatte. Bei einem Manne, der gewöhnt war, klar zu sehen, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, bei einer Frage jedes Für und Wider abzuwägen, wie er das Soll und das Haben in seinem Hauptbuche auszugleichen pflegte, bei einem solchen mußte es gewöhnlich schnell zu einer endgültigen Entschließung kommen. Diesmal freilich hieß es, sich nicht leichten Sinnes in ein Abenteuer stürzen.
     

    »In erster Linie gedenke ich mein Testament zu machen.« (S. 38.)
     
    Bevor er eintrat, machte Horatio Patterson seine hundert Schritte über den zu dieser
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