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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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nein! Mir fehlt dazu die Kompetenz, und ich bin dort, um durchzuatmen, jedes Jahr neu die wunderbare Landschaft und die Natur zu genießen – und neu zu schreiben.
    ZEIT :  Wo ist Ihre Heimat, Frau Wolf?
    Wolf:  Meine Heimat lag jenseits der Oder, und diese Heimat ist für mich schon lange verloren. Mein Zuhause ist Berlin, ich möchte nirgendwo anders leben, auch nicht dauernd auf dem Land. Ich bin seit den fünfziger Jahren in dieser Stadt, mein Leben, meine ganze Entwicklung ist mit Berlin verbunden, gute und schwere Zeiten habe ich hier erlebt. Wenn ich mit meinem Mann im Auto durch die Stadt fahre, erreichen mich oft Erinnerungssignale: Guck mal, hier ist das Kultur
haus, wo diese verrückte Lesung damals war. Natürlich gibt es das längst nicht mehr. Andere Gebäude lösen unangenehme Erinnerungen aus, zum Beispiel das ehemalige Zentralkomitee, das man von der Straße aus heute gar nicht mehr sieht, heute übrigens Außenministerium.
    ZEIT : Wie war das Gefühl, sich mit Erich Honecker in einem Raum zu befinden? Man stellt sich vor, daß es ziemlich langweilig gewesen sein muß.
    Wolf: So oft habe ich das gar nicht erlebt, meist bei größeren Veranstaltungen, bei denen er allerdings oft langweilige Reden hielt. Meistens war es so. Er hat seine Geschichten, das, was er sagen wollte, so heruntergeleiert. Einmal hat er mich persönlich eingeladen, das war nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann und unserem Protest dagegen und nachdem eine Reihe von Kollegen die DDR verlassen hatte. Er wollte ausloten, ob wir auch gehen wollten. Ich besuchte ihn, auch weil ich für vier jüngere Autoren, die man mit absurden Anschuldigungen eingesperrt hatte, etwas tun wollte. Wir saßen in einer Ecke seines Arbeitszimmers, Honecker sagte: Hier können wir offen reden. Das tat ich denn auch, kritisierte rückhaltlos die Kulturpolitik und ihre verhängnisvollen Folgen, kam dann auf die vier Schriftsteller zu sprechen: Wenn man als Autor hier aus Gesinnungsgründen eingesperrt werde, müßte man natürlich sehr schnell selbst auch das Land verlassen. Honecker hörte sich das alles an, versuchte zu beschwichtigen. Danach wurden die vier dann übrigens tatsächlich freigelassen.
    (…)
    ZEIT :  Frau Wolf, lassen Sie uns über Sätze reden, die Sie geschrieben haben. Ihr Roman Kindheitsmuster fängt so an: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.« Wie lange hat es gedauert, bis dieser Satz auf dem Papier stand?
    Wolf:  Sehr lange. Übrigens ist ja der erste Satz ein Satz von Faulkner. Bei Kindheitsmuster gab es viele Anfänge, am Ende waren es achtunddreißig. Immer wieder habe ich sie verwor
fen, Versuche gemacht, in der ersten oder in der dritten Person zu erzählen. Irgendwann stimmte es dann. Die Schwierigkeiten hingen damit zusammen, daß in diesem Buch vier Ebenen einander durchdringen und übereinander gelagert sind. Das formale Problem ergab sich aus dem Inhalt. Es wird die Reise einer Familie nach Polen beschrieben, begleitet von grundsätzlichen Überlegungen über das Gedächtnis und als weitere Ebene Erinnerungen an die Zeit, die die heutige Erzählerin als Mädchen in der Stadt erlebt hat. So ist das immer bei mir, ich gehe immer vom Inhalt aus.
    ZEIT :  Inhalt heißt Wahrheit?
    Wolf:  Inhalt heißt mehr. Inhalt heißt erst einmal Stoff. Und dann geht es um die Durchdringung des Stoffes. Daß die Stoffe auf der Straße liegen, ist natürlich Unsinn. Der Stoff liegt ja nicht auf der Straße, vielmehr hat jeder Autor zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Stoff. Und genau diesen Punkt der stärksten Affinität, der inneren Notwendigkeit, mit dem richtigen Zeitpunkt zu treffen, darum geht es. Das bringt dann den Erzählton hervor.
    ZEIT :  In Ihrem Buch Mit anderem Blick erzählen Sie viel von Ihrer Zeit in Kalifornien Anfang der neunziger Jahre. Einmal besuchten Sie dort einen Arzt, der Sie fragte, was Sie machen, um eine große Schriftstellerin zu werden. Was haben Sie ihm geantwortet?
    Wolf:  Daß ich versuche, so nah wie möglich und so schonungslos wie möglich schreibend an mich heranzukommen.
    ZEIT :  Was empfinden Sie als die entscheidenden Stationen Ihrer Karriere?
    Wolf:  Karriere? Ich würde lieber Entwicklung sagen. Sicher spielt Der geteilte Himmel eine wichtige Rolle, bis heute noch mein Buch mit der größten Auflage. Einer der offiziellen Vorwürfe in der DDR war ja damals, es sei zu »modern« geschrieben,
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