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Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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braucht Medikamente.«
    »Bist du etwa Arzt?«, gab ich zurück. Aber ich hatte Angst. Ich wünschte, sie würde weinen, den Mund aufmachen, in irgendeiner Weise auf mich reagieren. Aber sie lag einfach nur da und schnappte nach Luft. Und da wusste ich, dass es nicht nur eine Erkältung war. Was auch immer sie hatte, es wurde schlimmer.
    »Meine Mutter war Krankenschwester«, sagte Tack ruhig. Das erstaunte mich. Es war eigenartig, sich den Dieb, den wilden, gesetzlosen Jungen mit einer Mutter vorzustellen – oder überhaupt mit einer Vergangenheit. Ich sah ihn an.
    »Mach mich los«, sagte er mit leiser, überzeugender Stimme, »dann helfe ich dir.«
    »Blödsinn«, sagte ich.
    Ein Teil von mir – ein großer Teil – hofft, dass Lena gar nicht auftaucht. Sie könnte an der Grenze aufgehalten oder ohne Ausweis von einer Patrouille aufgegriffen worden sein. Sie könnte sich verirrt haben. Sie könnte einfach zu spät kommen. Dann würden Tack und ich da nicht mit reingezogen werden, riskierten kein beschissenes Riesendurcheinander.
    Aber wir haben sie zu gut ausgebildet und um kurz vor zehn sehe ich sie, wie sie die Straße entlanggeht, den Kopf im Regen gesenkt, der inzwischen zu einem leichten Nieseln abgeklungen ist. Sie trägt Kleider, die abgesehen von der Windjacke nicht ihr gehören. Sie muss sie aus dem Stützpunkt mitgenommen haben. Aber ihr Gang ist dennoch unverwechselbar: leichten Fußes, auf den Zehen wippend, als würde sie jeden Augenblick losrennen.
    Tack erblickt sie gleichzeitig und sinkt etwas tiefer in den Fahrersitz, als machte er sich Sorgen, dass sie uns entdecken könnte. Aber sie ist hochkonzentriert. Sie bleibt am Eingang zur Klinik kaum stehen – und tritt ein.
    Jetzt geht es los. Die Luft im Lieferwagen ist feucht und meine Haut fühlt sich klebrig an. Die Fenster sind von unserem Atem beschlagen. Ich verspüre eine erneute Welle der Übelkeit und unterdrücke sie. Dafür ist jetzt keine Zeit.
    Nach ein paar Minuten seufzt Tack und greift nach der Jacke, die zusammengerollt zwischen uns auf dem Sitz liegt. Er schüttelt sie auf und zieht sie energisch an. Er sieht lustig aus in einem Anzugjackett – wie ein Zirkusbär, der ein Kostüm trägt. Das würde ich ihm allerdings nie sagen.
    »Bist du so weit?«, fragt er.
    »Vergiss das hier nicht.« Ich reiche ihm einen kleinen eingeschweißten Ausweis. Er ist so alt und fleckig, dass man das Foto darauf kaum noch erkennen kann. Und das ist gut so, denn sein ursprünglicher Besitzer, Dr. Howard Rivers, war gut zehn Kilo schwerer und zehn Jahre älter als Tack.
    Eigentlich war Howard Rivers gar nicht Howard Rivers, sondern Edward Kauffman, ein angesehener Arzt in Maine, der sich bemühte die Deliria aus unseren Schulen und Familien fernzuhalten. Er pflegte Verbindungen zum Gouverneur und förderte medizinische Versorgungszentren in den ärmeren Gegenden der Stadt. Insgeheim allerdings war er ein radikaler und umstrittener Widerstandskämpfer, der dafür bekannt war, illegale Abtreibungen an Ungeheilten durchzuführen, die ihre Schwangerschaft unbedingt geheimhalten wollten.
    Über die Jahre schuf er die Identitäten mehrerer falscher Ärzte, so dass er seine Lieferungen an Medikamenten wie Antibiotika erhöhen konnte, die er dann an die Invaliden in der Wildnis verteilte.
    Edward Kauffman, der echte, ist inzwischen tot – seit zwei Jahren. Er wurde bei einem Undercovereinsatz der Polizei enttarnt und nur zwei Wochen später hingerichtet. Aber viele seiner Pseudonyme, seiner falschen Identitäten, haben überlebt. Sie erfreuen sich bester Gesundheit und praktizieren weiter.
    Tack klemmt den Ausweis an sein Jackett. »Wie sehe ich aus?«, fragt er.
    »Medizinisch«, antworte ich.
    Er wirft einen Blick in den Rückspiegel und versucht erfolglos, seine Haare glattzustreichen. »Denk dran«, sagt er. »Ich warte am Parkplatz in der 24. Straße auf euch.«
    »Wir werden dort sein«, entgegne ich und ignoriere das komische Gefühl in meinem Bauch. Es ist mehr als Übelkeit. Ich bin auch nervös. Ich hasse es, nervös zu sein. Das ist ein Zeichen von Schwäche. Es erinnert mich an die Person, die ich früher war, an die tickende Stille in unserem Haus, und an meinen Vater, dessen Wut sich zusammenbraute, anwuchs wie ein Sturm.
    Immer wenn ich jemanden umbringen muss, stelle ich mir vor, er hätte das Gesicht meines Vaters.
    »Sei vorsichtig, Rae.« Einen Moment erhasche ich einen Blick auf Michael, den Jungen, den sonst niemand zu sehen
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