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Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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gut«, sage ich, den Blick starr nach vorn gerichtet, damit er mir keine weiteren Fragen stellt. Zwei volle Wochen morgendlicher Übelkeit. Erst dachte ich, es wäre nur der Stress – Lenas Entführung, der ganze Plan, der aus dem Ruder gelaufen war. Das Warten. Das Beobachten. Das Hoffen, sie würde es hinkriegen.
    Geduld war noch nie meine Stärke.
    »Du siehst krank aus«, sagt er. Und dann: »Was ist los, Raven? Bist du …?«
    »Mir geht’s gut«, sage ich schnell. »Mein Magen ist nicht ganz in Ordnung, das ist alles. Das kommt von dem verdammten luftgetrockneten Fleisch, das wir gegessen haben.«
    Tack entspannt sich ein wenig. Er hört auf, das Lenkrad so fest zu umklammern, dass seine Fingerknöchel weiß werden, und auch der Muskel an seinem Unterkiefer kommt zur Ruhe. Ich fühle mich schuldig, habe ein schlechtes Gewissen, das sogar noch schlimmer ist als die Übelkeit. Lügen ist ein Schutz, wie die Stacheln eines Stachelschweins oder die Klauen eines Bären. Und meine Zeit in der Wildnis hat mich sehr gut darin werden lassen. Aber ich belüge Tack nicht gern.
    Er ist praktisch der einzige Mensch, den ich noch habe.
    »Ist das dein Kind?«
    Das waren Tacks erste Worte an mich. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er damals aussah. Er war sogar noch dünner als jetzt. Große Hände, zwei Nasenringe. Die Augen halb geschlossen, aber wachsam, wie die einer Eidechse; die Haare fielen ihm beinahe bis über die Nase. Wie er an Händen und Füßen gefesselt in der Ecke des Krankenzimmers saß. Von Mückenstichen und blutigen Kratzern übersät.
    Ich war erst seit einem Monat in der Wildnis. Ich hatte Glück gehabt und schon sechs Stunden, nachdem ich bei Yarmouth die Grenze überquert hatte, den Weg zu einem Stützpunkt gefunden. Sogar doppeltes Glück, denn nur eine Woche später zog der Stützpunkt um, nach New Hampshire, südlich von Rochester. Gerüchte über einen Angriff hatten alle nervös gemacht. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.
    Das war auch wirklich nötig. Blue war halbtot und ich hatte keine Möglichkeit, sie zu füttern. Ich war in Panik abgehauen, den Blick auf nichts weiter gerichtet als die Notwendigkeit zu verschwinden; ich hatte keine Vorräte, keine Ahnung, keine Hoffnung, alleine durchzukommen. Meine Schuhe waren zu eng und verursachten mir schon nach wenigen Stunden Fußmarsch münzgroße offene, blutige Blasen. Ich konnte mich nicht orientieren. Merkte mir nicht, wo ich langging. Ich hatte Durst, aber wagte nicht, aus einem Fluss zu trinken, weil ich Angst hatte, davon krank zu werden.
    Idiotisch. Wenn ich nicht auf den Stützpunkt gestoßen wäre, wäre ich gestorben. Und sie auch.
    Die kleine Blue.
    Ich hatte nicht mehr an Gott geglaubt, seit ich als kleines Kind mitangesehen hatte, wie mein Vater meine Mutter an den Haaren gepackt und sie mit dem Gesicht gegen die Arbeitsplatte in der Küche geknallt hatte. Als ich die Blutspritzer auf dem Linoleum sah und einen ihrer Zähne, der über den Boden schlitterte, weiß und glänzend wie ein Würfel. Da wusste ich, dass niemand über uns wachte.
    Aber in meiner ersten Nacht in der Wildnis, als sich der Wald plötzlich öffnete und ich verschwommene Lichter in der Dunkelheit leuchten sah, kleine Heiligenscheine jenseits des Regens; als ich Stimmen hörte, Grandma mir eine Decke um die Schultern legte und die zweiundzwanzigjährige Mari, die gerade das zweite Mal ein totes Baby geboren hatte, Blue in den Arm nahm und an ihre Brust legte und die ganze Zeit über, während Blue trank, lautlos weinte … Als ich wusste, dass wir beide gerettet waren – in dieser Nacht dachte ich, ich wäre Gott begegnet, nur für einen kurzen Augenblick.
    »Ich soll nicht mit dir reden«, sagte ich zu Tack. Nur dass ich damals seinen Namen nicht kannte. Er hatte zu dieser Zeit keinen Namen. Er hatte keine Gruppe, keinen Stützpunkt; gehörte nirgendwohin. Wir nannten ihn »den Dieb«.
    Der Dieb lachte. »Ach, nein? Und was ist mit der Freiheit jenseits der Mauern?«
    »Du bist ein Schmarotzer«, sagte ich, obwohl ich gar nicht so genau wusste, was der Begriff bedeutete. Ich war Gott sei Dank bisher keinem begegnet und das würde auch noch zwei Jahre lang, bis bei einem Umzug die Hälfte unserer Leute ausgelöscht wurde, so bleiben. »Ich will nicht mit dir reden.«
    Er war zusammengezuckt. »Ich bin kein Schmarotzer.« Dann reckte er das Kinn und starrte mich an. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass er vermutlich so alt war wie ich.
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