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Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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passiert ist. Du bist ein ungeschicktes Mädchen. Du bist gegen eine Tür gestoßen. Du bist gestolpert und die Treppe runtergefallen. Meine Lieblingsgeschichte war: Das wollte er nicht.
    Sie war so gut darin, Geschichten zu erzählen, dass ich irgendwann anfing sie zu glauben. Vielleicht war ich wirklich ungeschickt. Vielleicht war es wirklich meine Schuld, weil ich ihn provoziert hatte.
    Vielleicht hatte er es wirklich nicht gewollt.
    Es gab auch Geschichten von einem Mädchen, die vor ihrem Eingriff schwanger wurde. Caroline Gormely – sie wohnte in unserer Straße, in unserem Viertel aus schachtelartigen, identisch aussehenden Häusern. Ihre Eltern fanden es erst heraus, nachdem sie eine halbe Flasche Bleichmittel getrunken hatte und in die Notaufnahme gebracht werden musste. An einem Tag war sie noch da, fuhr mit dem Bus von der Schule nach Hause und presste die Nase an die Scheibe, die von ihrem Atem beschlug. Und am nächsten Tag war sie weg.
    Meine Mutter sagte, sie sei irgendwohin gebracht worden, wo sie geheilt werden sollte, in eine andere Stadt, wo sie von vorne anfangen könnte. Ihre Eltern hatten sie enterbt. Sie würde wahrscheinlich irgendwo als Müllarbeiterin enden, nie einen Partner finden, den Schatten der Krankheit wie eine Narbe mit sich herumtragen. Siehst du, was passiert, wenn du nicht hörst?, sagte mein Vater.
    Und was ist mit dem Baby?, hatte ich meine Mutter gefragt.
    Sie zögerte nur einen Augenblick. Um das Baby wird man sich kümmern, sagte sie. Und so meinte sie es auch – nur nicht so, wie ich dachte.
    Der Kittel der Laborantin ist mir zu groß, so groß, dass ich mich fühle wie ein Kind, das Verkleiden spielt. Aber es geht schon. Ich hetze nicht. Eine gute Geschichte lebt vom richtigen Tempo, von Besonnenheit. Ich nehme mir die Zeit, nach einem Mundschutz zu suchen, den ich mir übers Gesicht ziehe, und nach Latexhandschuhen. Ich verriegele den Türknauf, bevor ich zurück auf den Flur trete und die Tür hinter mir zuziehe. Ich darf nicht riskieren, dass die Krankenschwester entdeckt wird, die jetzt tief atmend und wie ein Kind zusammengerollt auf dem Linoleum liegt.
    Ich klemme mir ihren Ausweis an den Kittel und weiß, dass ihn sich keiner genau ansehen wird. Man muss den Leuten die groben Züge der Geschichte liefern, die Dinge, die sie erwarten: die Hauptfiguren und die Struktur.
    Und den Höhepunkt natürlich. Eine gute Geschichte braucht immer einen Höhepunkt.
    Entgegen meinen Befürchtungen gab mir keiner der Siedler die Schuld an der Flucht des Diebes, selbst als das Fehlen des Küchenmessers entdeckt wurde. Alle nahmen an, er sei irgendwie ausgebrochen, es sei ihm irgendwie gelungen, seine Fesseln selbst zu lösen, und dass er das Messer gestohlen habe, bevor er sich hinausschlich. Diejenigen, die dafür gewesen waren, ihn umzubringen, tönten: Er sei ein Nichtsnutz, er werde zurückkommen und sie alle im Schlaf ermorden, jetzt müssten sie das Lebensmittellager rund um die Uhr bewachen. Sie hätten den nichtsnutzigen Schmarotzer umlegen sollen, solange sie die Gelegenheit dazu gehabt hatten.
    Beinahe sagte ich etwas. Ich hätte gestanden, aber meine Angst davor, ausgestoßen und in der Wildnis ausgesetzt zu werden, war zu groß.
    Der Dieb hatte versprochen, mittags zurück zu sein, aber die Mittagszeit kam und ging, und als die Siedler ihre Runden erledigt hatten und Blues Atmung wie ein Rasseln in ihrer Brust klang, wenn sie überhaupt atmete, wusste ich, dass er mich belogen hatte. Er würde nie zurückkommen, Blue würde sterben und es war alles meine Schuld. Ich konnte nicht weinen, weil ich nie gelernt hatte zu weinen, noch nicht mal als kleines Mädchen. Weinen war eins der Dinge, die meinen Vater hochgehen ließen, genau wie zu laut zu lachen, über einen Witz zu lächeln, der ihn nicht einschloss, einen zufriedenen Eindruck zu machen, wenn er sich elend fühlte, oder einen elenden Eindruck, wenn er zufrieden war.
    Ich weiß noch, dass Lu auf Blue aufpasste, während ich frische Luft schnappen ging, obwohl ich merkte, dass sie nicht glaubte, es würde viel nützen. Alle schlichen um mich herum, als hätte ich irgendeine Krankheit oder als wäre ich eine gezündete Bombe und könnte jeden Moment zu Splittern zerbersten. Das Schlimmste war, zu wissen, dass die anderen ebenfalls glaubten, Blue würde sterben.
    Ich hatte mich noch nicht an die Wildnis gewöhnt und ich mochte sie damals nicht. Ich war an Regeln und Zäune gewöhnt, an Flüsse aus Asphalt und an
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