Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
5681
----
    Beim Ausfall aller Systeme befand sich der Airbus in knapp siebentausend Metern Höhe über der Schwäbischen Alb. Punkt 07:00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit waren alle Displays und Anzeigen erloschen und das monotone Rumoren der Triebwerke verstummte. Die vor sich hin dösenden Passagiere nahmen die Ver änderung kaum wahr. Es war etwas ruhiger im Kabinenraum, das war auch schon alles. Vorerst.
    »Es ist mir egal, Vater, wenn du es immer wieder ins Lächerliche ziehst oder in Frage stellst.« Sie schimpfte im Flüsterton und streichelte dabei Kevins Haar. Ihr zehnjähriger Sohn lag mit dem Kopf auf ihren Oberschenkeln und schlief. »Diese Welt ist eine von euch Män-nern gemachte Welt und sie strotzt nur so von Phallussymbolen! Wie Hunde an jeden Baum, an jede Ecke pinkeln müssen, um ihr Revier zu markieren und sich von der eigenen Existenz zu überzeugen, so müssen Männer offenbar die ganze Welt mit ihrem geliebten Ding dekorieren. Manchmal denke ich, euch geht einer ab, wenn ihr vor einem Turm steht, der heilig in den Himmel aufragt.«
    Der Angesprochene, Eckard Assauer, lächelte milde, was seine Tochter nur noch wütender machte. Ihm waren Sybillas Gedanken zwar fremd, aber nicht neu.
    »Siehst du«, triumphierte sie, »du lachst mich aus!«
    »Mach ich nicht«, erwiderte er der Form halber. Er wusste, wie er auf ihre Angriffe auch reagierte, es war immer falsch. Zustimmung interpretierte sie als opportunistische Verlogenheit (Originalton Sybilla Assauer-Brehm), Schweigen als das Desinteresse eines alten Ignoranten, Widerspruch war für sie Zeichen bornierter Unbelehrbarkeit und ein Lächeln der zweifelsfreie Beweis für die Arroganz und Überheblichkeit der Vertreter dieser Männerwelt.
    Als Professor für mittelalterliche Geschichte und Freizeitarchäologe hatte er gelernt, dass nicht auf jede Behauptung geantwortet werden musste. Manchmal sah man sich einem Gesprächspartner gegenüber, den selbst die personifizierte Wahrheit niemals hätte überzeugen können. Und Sybilla gehörte mit Bestimmtheit zu dieser Kategorie Mensch. Sollte es ihr beispielsweise in den Sinn kommen, dass alle Meerschweinchen längsgestreifte Antarktisbewohner seien, so war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren Kampf für die Verbreitung dieser Wahrheit aufnehmen würde.
    »Sieh doch, wie der dort drüben seinen Stift hält!« Sybilla deutete auf einen älteren Herrn, aus dessen Faust ein dicker Kugelschreiber senkrecht herausragte.
    »Oder Krawatten!« (Achtung! Ihr Lieblingsthema!) »Nicht nur, dass sie wie ein überdimensionierter Phallus aussehen, ihre Spitze zeigt auch noch genau auf ihn. Keiner soll das gute Stück übersehen!
    Schaut alle her: Ich bin ein Mann und regiere die Welt!«
    »Manchmal könnte man auf die Idee kommen, du wärst neidisch.«
    »Aber Vater!« Ihre dunklen, leidenschaftlichen Augen funkelten.
    »Würden wir Männer in jedem Kleiderschlitz, in jeder offenen Tür oder jedem Loch in der Landschaft ein Vaginasymbol erkennen und das dann mit deiner Vehemenz angreifen – die Menschheit hätte sich längst ausgerottet.«
    »Aber …«
    »Psst!« Assauer legte einen Finger auf die Lippen. »Sei bitte einen Mo ment still.« Sie folgte seiner Aufforderung. Irgendetwas in seinem Blick verriet ihr, dass dies jetzt nicht mehr zu ihrem Wortspiel gehörte.
    Eckard Assauer musterte den Innenraum des Flugzeugs und die anderen Passagiere. Einige schliefen, andere sahen zum Fenster hinaus. Ganz hinten quäkte ein Baby, begleitet vom Zischen seiner Mutter, die es zu beruhigen suchte. Zwei Reihen vor ihnen klopfte ein Teenager gegen den kleinen, in der Rückenlehne des Vordersitzes eingelassenen Monitor, der vor wenigen Augenblicken verloschen war und ein japanischer Geschäftsmann klappte sein Laptop zu, wobei ihm seine Erziehung half, die Wut über den plötzlichen Computerabsturz vor den anderen Mitreisenden zu verbergen.
    »Was ist denn, Vater?«
    »Hörst du das nicht?«
    »Nein. Was meinst du? Ich höre nichts«, flüsterte sie.
    »Das ist es ja. Ich höre auch nichts.« Er legte seine Notizen auf den freien Platz neben sich und suchte nach einer Stewardess. Aber sie, die doch sonst immer irgendwo irgendwas zu erledigen hatten, schienen spurlos verschwunden.
    »Was hörst du nicht, Vater? Jetzt tu nicht so geheimnisvoll.«
    »Ich höre die Triebwerke nicht mehr.«
    Sybilla richtete sich in ihrem Sitz auf.
    Zu den durchaus begrenzten Vorzügen des menschlichen Wesens gehört zweifellos die mehr oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher