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Ratgeber Magersucht

Ratgeber Magersucht

Titel: Ratgeber Magersucht
Autoren: Thomas Paul
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Erkrankung nicht leicht gewesen. Kirstens ältere Schwester hatte immer darüber gelacht, wenn Kirsten Gefühle von Ärger oder Traurigkeit äußerte. Als die Mutter so schwer krank wurde, sprach niemand in der Familie über seine Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit der Krebserkrankung. Auch jetzt wurde in Kirstens Familie ihr körperlicher Zustand viel ernster genommen, als wenn Kirsten ansprach, dass es ihr nicht gut gehe.
    Eine weitere besondere Bedingung in Kirstens Lebensumfeld war, dass ihre Familie sehr leistungsorientiert war – Schulnoten und andere Leistungen wurden sehr wichtig genommen. Dann gab es auch schon mal ein Lob und Kirsten merkte, dass ihre Eltern stolz auf sie waren.
    Auf Kirstens Magersucht reagierte die Familie mit Unverständnis. Vater und Mutter waren etwas rundlich, achteten nicht auf ihre Figur. Sie konnten nicht verstehen, wie jemand „ohne Grund“ so wenig essen kann. Aber sie zeigten sich sehr fürsorglich gegenüber ihrer Tochter, nahmen wo es nur ging Rücksicht. Kirsten bekam so seit langer Zeit wieder einmal Zuwendung von ihren Eltern. Auch Kirsten versuchte, Rücksicht auf ihre Eltern zu nehmen: Sie fühlte sich sehr verantwortlich dafür, dass es ihren Eltern, besonders aber ihrer Mutter, gut ging. Sie fühlte sich immer mehr dazu verpflichtet, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Wenn sie etwas mit Freunden unternehmen wollte, hatte sie gegenüber den Eltern ein schlechtes Gewissen. Von Freunden zog sie sich so zunehmend zurück. Aber durch das Hungern hatte sie auch oft das Gefühl, stark und diszipliniert zu sein, etwas zu leisten. Mit den sie belastenden Dingen, wie z. B. ihrer zunehmenden Vereinsamung, konnte sie sich kaum noch beschäftigen. Kirstens ältere Schwester, die bereits ausgezogen war, reagierte aggressiv auf die Erkrankung ihrer Schwester. Innerhalb der Familie wurde allerdings kaum über Kirstens Essstörung und auch sonst wenig miteinander geredet.
    Den ersten Klinikaufenthalt trat Kirsten widerstrebend an: Sie wollte lieber ihre Lehre als Bürokauffrau fortsetzen. Sie litt zwar darunter, dass ihre Gedanken ständig ums Essen kreisten, hatte aber riesige Angst davor, zunehmen zu müssen und „fett“ zu werden. Aber ihr Arbeitgeber, der selber eine magersüchtige Tochter gehabt hatte, bestand darauf, dass sie sich einer Behandlung unterzog, wenn sie ihre Ausbildung fortsetzen wollte.
    In der Therapie nahm sie 6 kg zu, erlernte wieder ein regelmäßiges Essverhalten. Mit etwas mehr Gewicht merkte sie bereits, dass es ihr körperlich besser ging. Dass ihre Schwester ihr bei einem Besuch einmal rückmeldete, sie habe ja schon wieder „einen ganz schönen Hintern in der Hose“ wurde sie sehr verunsichert. Bald darauf beendete sie gegen den Rat ihrer Therapeutin mit einem noch stark ausgeprägten Untergewicht vorzeitig die Therapie (Entlassungsgewicht 39 kg). Sie hatte das Gefühl, die Magersucht „gut im Griff“ zu haben. Um sich nicht mehr ständig dafür verantwortlich zu fühlen, dafür zu sorgen, dass es ihren Eltern gut ging, entschied sie sich, zu Hause auszuziehen. Sie hatte die Hoffnung, dass es ihr so eher gelingen würde, ihr eigenes Leben zu leben. Sie nahm sich fest vor, weniger Zeit mit ihren Eltern zu verbringen und wieder mehr mit Freunden zu unternehmen.
    Zu Hause zurück bei ihrer Ausbildung gab es einen Kollegen, der gern seine Arbeit auf sie abwälzte. Er bat sie immer häufiger, Aufgaben für ihn zu übernehmen, während er z. B. im Internet surfte, aber Kirsten traute sich nicht, Nein zu sagen. Arbeit liegen zu lassen gelang ihr auch nicht, die Arbeit machte ihr immer weniger Freude. Außerdem fühlte sie sich von ihren Arbeitskollegen beobachtet, wenn sie etwas aß. Darauf reagierte sie mit „Trotz“, aß zuerst weniger, dann gar nichts mehr. In der ersten Zeit nach der Entlassung aus der Therapie hatte sie alte Kontakte aufleben lassen und mit Bekannten Verabredungen getroffen. Nun zog sie sich wieder mehr zurück, verlor die Freude an diesen Aktivitäten. Sie verbrachte viel Zeit allein in ihrer Wohnung, wurde allmählich regelrecht ängstlich in sozialen Kontakten. Die gedankliche Beschäftigung mit dem Essen und der Bewegungsdrang nahmen langsam immer mehr Raum ein. Als Kirsten am Jahresende durch vermehrte Überstunden zusätzlich belastet war, schränkte sie ihre Nahrungsaufnahme weiter ein und nahm innerhalb von drei Monaten wieder auf 35 kg ab. Ihre eigene Wohnung gab sie auf und zog „übergangsweise“ wieder zurück
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