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Radikal führen

Radikal führen

Titel: Radikal führen
Autoren: Reinhard K. Sprenger
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auf die Frage, was sie eigentlich tun. Problematisch sind aber nicht die wenigen Antworten, sondern ihre Überzahl. Ist Führung Wissenschaft? Kunst? Handwerk? Beruf im klassischen Sinne? Fragen Sie sich selbst: Was ist Ihr Selbstverständnis als Führungskraft? Dirigieren Sie ein Symphonie-Orchester, wie oftzu lesen? Formen Sie – wie Altmeister Peter Drucker meinte – aus vielen Einzelleistungen eine Gesamtleistung? Formulieren Sie Strategien, planen Sie oder denken Sie »voraus«? Verstehen Sie sich als »Troubleshooter« oder eher als »Jongleur«? Entwickeln Sie Visionen und weisen Sie den Weg? Stürmen Sie voran wie die preußischen Soldatenführer? Oder gehen Sie »hinter« den Menschen, wie es buddhistische Weisheitslehren empfehlen?
    Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Manche halten Führen gar für eine innere Haltung, eine bestimmte Qualität des Bewusstseins. Aber irgendwie scheint man durch diese bildhaften Vergleiche dem Kern der Führung auch nicht näherzukommen.
    Bleiben wir daher noch einen Augenblick hartnäckig und schauen von außen auf das Handeln einer Führungskraft: Was tun Sie, wenn Sie führen? Was kann man sehen, wenn man Sie als Führungskraft beobachtet? Wahrscheinlich dieses: Sie reden viel – damit andere etwas tun. Sie sitzen in Meetings herum, telefonieren, sprechen mit Kunden, Kollegen, Mitarbeitern, reisen durch die Gegend, warten in Flughafen-Lounges auf den verspäteten Flieger, spielen mit Ihrem Handy und starren auf den Bildschirm Ihres Laptops. Als Sie noch nicht Führungskraft waren, haben Sie das so ähnlich zwar auch schon gemacht. Aber jetzt heißt es eben Führung.
    Wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter die Anweisung seines Chefs befolgt, ist das dann Führung? Oder ist das nicht allenfalls eine Erklärung für diesen Zusammenhang? Niemand kann in den Mitarbeiter hineinschauen und dort dessen Motivation erkennen. Vielleicht hätte der Mitarbeiter ja auch ohne die Existenz des Chefs genau das getan, was er tat.
    Das korrespondiert mit der Antwort vieler Führungskräfte auf die Frage: »Was hat sich eigentlich an dem Tag geändert, als Sie Führungskraft wurden?« Die häufigste Antwort: »Nichts.« Im Grunde läuft alles so weiter wie bisher. Gestern machten Sie etwas, heute führen Sie – tun aber mehr oder weniger dasselbe. Denn Leistung, Verantwortung und Kommunikation gibt es ja auch jenseits der Führungsaufgabe. Erst später dann verschieben sich ein paar Schwerpunkte, kommen ein paar Handlungen dazu.
    Führung ist also kein Ding, welches man unmittelbar wahrnehmen könnte, sondern ein Etikett, das von außen aufgeklebt wird. Wer Führung beobachtet, setzt sie als Motivationshintergrund bestimmter Handlungen voraus. Sie ist eine zusammenfassende Beschreibung für unterschiedliche Handlungen, die halt irgendwohin »führen«. Man kann diese Verhaltensweisen registrieren, aber ihr Sinn wird hinzugefügt – er ist Zuschreibung. »Führung« ist mithin ein Konstrukt. Wie der Yeti, der rätselhafte Schneemensch: Alle sprechen darüber, aber noch niemand hat ihn je gesehen.
    Lassen Sie uns festhalten: Wir sollten nicht um jeden Preis definieren wollen, was Führung ist. Es ginge uns leicht wie einem, der ein Echo zum Sprechen bringen will. Führung realisiert sich in ihren Auswirkungen. Man kann sie nicht sehen, sondern nur machen.
Wer beobachtet wen beim Beobachten?
    Für die Nicht-Sichtbarkeit von Führung gibt es drei Gründe.
    Der erste Grund ist die Tatsache, dass gerne von Führung gesprochen wird, wenn sie zu fehlen scheint. Wenn sie vermisst wird, ähnlich wie Vertrauen, dann wird sie kenntlich: »Hier ist doch Führung gefordert«, heißt es dann, oder: »Das ist doch Chefsache!« Und wenn eine Organisation ein Problem hat, dann wird von »mangelnder Führung« gesprochen. In ihrer Nicht-Sichtbarkeit ähnelt Führung der Hausfrauenarbeit, die oft erst dann wertgeschätzt wird, wenn sie ungetan bleibt.
    Die tiefere Bedeutung von etwas Wichtigem erfassen wir ohnehin erst, wenn wir zuvor nicht darauf achteten, es nun aber vermissen. Führung ist daher – so hätte es der Philosoph Martin Heidegger gesagt – in ihrer Anwesenheit abwesend. Ihre Erscheinungsweise ist ihr Nicht-Vorhandensein. Je mehr wir uns mit Führung beschäftigen, desto weniger scheinen wir davon zu haben. So wie viele Dinge nur vor dem Negativen sichtbar sind. Die Entdeckung der Raumfahrt war ja nicht der Weltraum, sondern die Erde, die bis dahin für ihre Bewohner immer unsichtbar
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