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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele
Autoren: Martha Sophie Marcus
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sagen, damit er nicht bestraft wurde, doch er war zu ehrlich dazu. Deshalb erzählte er ihnen, warum er dort war.
Vater Falke wog nachdenklich sein Vogelhaupt. »Auch bei den Adlern ist es üblich, dass ein Bruder den anderen aus dem Nest wirft. Ich
halte davon nichts. Wenn du also bleiben und dabei helfen willst, meine Kinder mit dem zu füttern, was wir erbeuten, bis sie flügge sind, dann kannst du einer von uns werden. Wenn du es nicht willst, dann musst du nach Hause gehen und deinen Bruder töten, damit er dich nicht umbringt.«
Bei allem Groll wollte Tatanwi seinen älteren Bruder nicht töten, darum blieb er. Und zugleich mit den Jungen der Falken wuchs auch ihm sein Gefieder, und er lernte fliegen.
    Unter diese Geschichte hatte mein Vater ein paar Sätze geschrieben:
Tatanwis Nachfahren und solche, die ihnen ähnlich waren, verbreiteten sich über die ganze Welt. Doch auch Kotanwi hatte Nachkommen, wenn auch wenige. Seit jeher haben diese eine besondere Gabe dafür, ihre Verwandten, die Vogelmenschen, aufzuspüren und ihnen nachzustellen. Denn noch immer sind sie von Neid und Missgunst zerrissen wie damals Kotanwi.
    Es folgten viele Seiten, auf denen Oma und mein Vater abwechselnd eine Menge Märchen und Sagen unter die Lupe nahmen, in denen Vögel vorkamen. Jedes Mal glaubten sie, darin Hinweise auf die Vogelmenschen zu finden.
    Den größten Teil überblätterten wir, bis es am Ende des zweiten, nur halb gefüllten Buches noch einmal interessant wurde. Da war ein Zeitungsausschnitt vom vorigen Jahr eingeklebt, mit einem Foto von einem Mann, der einen Greifvogel auf dem Handschuh trug:
    Die Greifvogelwarte von Burg Falkenstein hat einen neuen Falkner und Verwalter.
    Rudolf von Meutinger übernimmt das Amt des in Pension gehenden Walter Busch als Falkner und »Burgvogt«. Der passionierte Vogelkenner von Meutinger geht seinen eigenen Worten nach bereits von Kindesbeinen an mit Greifvögeln um. Er stammt aus einer Familie, in der diese Begeisterung eine jahrhundertealte Tradition hat. Die Vorfahren von Meutingers gehörten zu den gefragtesten Falknern großer Adelsgeschlechter und haben ihren Titel durch ihre besondere Begabung im Umgang mit den kostbaren Tieren erworben. Rudolf von Meutinger betont, wie wichtig es ihm ist, neben der Burganlage auch die Greifvogelwarte von Falkenstein zu einer besonderen Attraktion für alle Besucher zu machen.
    Darunter hatte Oma geschrieben:
Von Meutinger hat einen krankhaften Sammeltrieb für Greif- und Rabenvögel. Er ist schon einmal wegen Missachtung des Artenschutzgesetzes in Schwierigkeiten gewesen, konnte sich aber herauswinden. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Mann ein Nachfahr Kotanwis ist. Einer von der gebildeten und gefährlichen Sorte, die mehr über Vogelmenschen herausgefunden hat, als diesen lieb sein kann. Ist er eine Bedrohung?
    Und damit endeten die Einträge ins Notizbuch.
    »Wenn das keine Spur ist«, sagte Jori. Sie war bleich geworden und biss sich auf die Unterlippe. Sogar dabei sah sie hübsch aus.
    »Das stammt vom letzten Jahr«, meinte ich. »Glaubst du wirklich, dass es etwas mit unserer Sache zu tun hat?«
    »Du fährst gleich morgen zu dieser Burg und siehst dich dort um, dann werden wir es schon erfahren.«
    »Erzähl mir nicht dauernd, was ich tun soll. Das kann ich nicht ab.«
    »Oh, Verzeihung. Aber ich habe wirklich keine Geduld, darauf zu warten, dass du selbst auf eine gute Idee kommst. Oder fällt dir etwa was Besseres ein? Wohl kaum.«
    Ich hätte sie erwürgen können, aber sie hatte recht.    

Flugshow
    I
ch hatte keine große Lust, Jori mit zu uns zu nehmen, aber in Omas Haus sollte sie auch nicht bleiben. Selbst wenn sich diese Tatanwi-Kotanwi-Geschichte reichlich märchenhaft anhörte und ich nicht glaubte, dass jemand ihr »nachstellte«, hatte ich das Gefühl, dass es nicht gut war, sie allein zu lassen.
    Das größte Problem war natürlich Joris Fuß. Er hatte sich inzwischen verändert. Die hintere Klaue war etwas geschrumpft und die vorderen waren ein Stückchen weiter verwachsen. Trotzdem durften Mama und Papa Jori so nicht sehen.
    Also hüllte ich den Fuß unter Joris Gejammer in zwei Geschirrtücher und einen Verbandswickel aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Zum Schluss zogen wir noch eine von Omas größten, ausgeleierten Wollsocken darüber. Außerdem stand in der Abstellkammer eine alte Krücke, die die Tarnung perfekt machte. Ich hatte mir sogar schon eine Erklärung dafür ausgedacht, wer Jori war und warum ich sie
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