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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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breitgemacht. Es hätte keinerlei Mitgliedsbeschränkung unter der namenlosen Elite gegeben, die beabsichtigte, sich aus der Ökosphäre zu verabschieden. Aber nachdem alle Fakten auf dem Tisch lagen und es nur um den harmlosen Ned Landers ging, gab es im Grund keinen Anlaß zur Befürchtung.
    Diese Theorie ergab durchaus Sinn – aber Summers’ Beweise waren nicht sehr stichhaltig gewesen. Widerstrebend hatte sie den Kontakt zu einem ›Informanten aus der Industrie‹ hergestellt, der angeblich für einen anderen Arbeitgeber in der Genübersetzung tätig gewesen war. Doch mir gegenüber hatte dieser angebliche Informant alles abgestritten. Als ich weitere Anhaltspunkte verlangt hatte, war Summers immer ausweichender geworden. Entweder besaß sie gar keine stichhaltigen Beweise, oder sie hatte mit einem anderen Journalisten eine Vereinbarung getroffen, die Konkurrenz nicht in die Geschichte einzuweihen. Es war frustrierend, aber ich hatte weder über die Zeit noch die Mittel verfügt, um eigene Recherchen anstellen zu können. Wenn es tatsächlich ein Komplott genetischer Separatisten gab, würde ich genauso wie jeder den Exklusivbericht in der Washington Post lesen müssen.
    Ich schloß mit einem Potpourri verschiedener Stimmen – von Bioethikern, Genetikern und Soziologen –, die allesamt die ganze Sache abtaten. »Mr. Landers hat das Recht, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben und seine Kinder so aufzuziehen, wie er es für richtig hält. Wir verfolgen die Amish nicht wegen ihrer Inzucht, ihrer ungewöhnlichen Technik oder ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit. Warum sollen wir Landers verfolgen – der im wesentlichen dieselben ›Verbrechen‹ begeht?«
    Die Endfassung des Berichts war achtzehn Minuten lang. Für die Sendung hatte ich jedoch nur zwölf Minuten. Ich schnitt gnadenlos weiter, indem ich zusammenfaßte und vereinfachte. Ich gab mir Mühe, professionelle Arbeit abzuliefern, machte mir aber keine zu großen Sorgen wegen des Verlusts an Details. Die meisten Echtzeit-Sendungen in SeeNet dienten ausschließlich dem Zweck, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und Reviews in den konservativeren Medien nach sich zu ziehen. Gepanschtes DNS war auf 23 Uhr an einem Mittwoch angesetzt, und die große Mehrheit des Publikums würde sich anschließend in die vollständige, interaktive Version einklinken. Diese war nicht nur länger, linearer und stringenter, sondern außerdem mit Links auf andere Quellen versehen: alle wissenschaftlichen Beiträge, die ich selbst für meine Recherchen gelesen hatte (und wiederum alle dort zitierten Artikel), andere Medienberichte über Landers (einschließlich der Verschwörungstheorie von Jane Summers), die betreffenden US-amerikanischen und internationalen Gesetzestexte – und sogar Hinweise, die in den Sumpf möglicher Vergleichsfälle führten.
    Am Abend des fünften Tages – ich lag genau im Zeitplan, was ein Grund für triumphierenden Jubel war – verknüpfte ich die letzten losen Enden und schaute mir den Beitrag noch einmal an. Ich versuchte, meine Erinnerungen an die Dreharbeiten und sämtliche vorgefaßten Meinungen zu vergessen, um die Geschichte möglichst genauso wie ein SeeNet-Zuschauer zu betrachten, der noch nichts über dieses Thema angeschaut hatte (abgesehen von einigen irreführenden Vorankündigungen dieser Dokumentation).
    Landers wirkte überraschend sympathisch. Ich hatte gedacht, daß ich härter mit ihm umgegangen war. Ich hatte gedacht, ich hätte ihm die Gelegenheit gegeben, sich mit der ernsthaften Selbstdarstellung seiner bizarren Vorhaben selbst in den Dreck zu ziehen. Doch er wirkte überhaupt nicht griesgrämig, sondern eher gutmütig. Mit jedem Scherz schien er weitere Punkte zu sammeln. Sich von Reifendeponien ernähren? Sich HIV spritzen? Ich sah fassungslos zu. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es tatsächlich einen leichten Unterton absichtlicher Ironie gab, eine Spur von Bescheidenheit in seiner Art, die mir zuvor irgendwie entgangen war – oder ob es am Thema lag, daß ein geistig normaler Zuschauer seine Worte einfach nicht auf andere Weise interpretieren konnte.
    Was war, wenn Summers recht hatte? Wenn Landers wirklich ein Lockvogel war, eine Ablenkung, jemand, der unübertrefflich die Rolle des Clowns spielte? Was war, wenn tatsächlich mehrere tausend der reichsten Menschen dieses Planeten planten, sich selbst und ihre Nachkommenschaft in die vollkommene genetische Isolation zurückzuziehen, um die absolute Immunität
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