Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
der Katastrophe zu suchen. Die Computer waren unschuldig und neutral, genauso wie der Mars, an den er selbst gewisse unsinnige Ansprüche gestellt hatte, als wäre die Welt verantwortlich für die Trugbilder, die der Mensch ihr aufzudrängen versucht. Aber diese alten Bücher hatten schon alles getan, was sie vermochten. Er sah keinen Ausweg.
    Auf dem untersten Bord des Regals gab es auch Belletristik. Zwischen den bunten Rücken ragte ein blauer Band mit Erzählungen von Poe heraus. Also auch Romani las ihn? Er selbst mochte Poe nicht, wegen der manierierten Sprache, wegen der Gewähltheit der Visionen, die so taten, als wären sie nicht aus Träumen geboren. Aber für Cornelius war Poe so etwas wie eine Bibel. Gedankenlos griff er das Buch heraus, es öffnete sich auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis. Er las einen Titel, der ihn betroffen machte. Cornelius hatte ihm das einmal nach der Wache gegeben und ihm diese Erzählung empfohlen, in der ein Mörder auf phantastische, unglaubliche Weise entlarvt wurde. Nach der Lektüre hatte er ein verlogenes Lob aussprechen müssen, natürlich, der Chef hat immer recht ...
    Zuerst spielte er nur mit dem Gedanken, der ihm gekommen war, dann begann er ihn auszuspinnen. Er ähnelte ein bißchen einem Schülerstreich, aber zugleich auch einem heimtückischen Stoß in den Rücken. Roh, unerhört grausam, doch wer weiß, vielleicht gerade in dieser Situation wirksam: diese vier Worte zu telegrafieren. Vielleicht waren all diese Verdächtigungen barer Unsinn, vielleicht bezog sich die Krankheitsgeschichte auf einen anderen Cornelius, während jener die Computer genau nach Vorschrift getestet hatte und sich keiner Schuld bewußt war. Wenn er dann ein solches Telegramm erhielt, würde er die Schultern heben mit dem Gedanken, sein früherer Untergebener habe sich einen idiotischen, höchst abstoßenden Scherz erlaubt, aber mehr würde er nicht denken oder tun.
    Wenn die Nachricht von der Katastrophe jedoch Unruhe, unklare Zweifel in ihm geweckt hatte, wenn er schon ein wenig über den eigenen Anteil an dem Unglück nachdachte und sich gegen diese Gedanken wehrte, dann würden die vier telegrafierten Worte wie ein Blitz einschlagen. Er würde sich augenblicklich in einer Sache, die er selbst nicht konsequent zu formulieren wagte, durchschaut und zugleich schuldig fühlen: Dann konnte er dem Gedanken an »Anabis« und an das, was ihn erwartete, nicht mehr entfliehen; und selbst wenn er sich dagegen sperrte, das Telegramm würde ihm keine Ruhe lassen. Er würde es nicht fertigbringen, die Hände in den Schoß zu legen und in Passivität zu verharren; das Telegramm würde ihm unter die Haut gehen, sich in sein Gewissen einschleichen – und was dann? Pirx kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß sich der Alte nicht bei der vorgesetzten Dienststelle melden würde, um ein Geständnis abzulegen, ebensowenig aber würde er versuchen, sich zu verteidigen und der Verantwortung zu entfliehen. Wenn er einmal eingesehen hatte, daß ihn die Verantwortung traf, dann würde er ohne ein Wort das tun, was er für richtig hielt.
    Aber trotzdem – so konnte man nicht vorgehen. Noch einmal spielte er alle Varianten durch – bereit, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, ein Gespräch mit van der Voyt zu verlangen, wenn das irgend etwas nützte ... aber kein Mensch konnte ihm helfen. Niemand. Alles hätte anders ausgesehen, wären nicht »Anabis« und diese sechs Tage Frist gewesen. Den Psychiater zur Aussage zu bewegen, die Art und Weise zu überprüfen, in der Cornelius die Computer testete, den Computer des »Anabis« umzuprogrammieren – all das erforderte Wochen. Also? Den Alten erst einmal vorbereiten, durch irgendeine Nachricht, die ihm sagte, daß ...? Aber dann würde alles fehlschlagen. Cornelius würde in seinem anomalen Geisteszustand Ausflüchte finden, Gegenargumente, schließlich hat auch der redlichste Mensch der Welt so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb. Er würde beginnen, sich zu verteidigen, oder, was ihm ähnlicher sah, verächtlich schweigen, während »Anabis« ...
    Pirx hatte das Gefühl, zu versinken, von allem zurückgestoßen, wie in jener anderen Erzählung von Poe, Grube und Pendel, wo die leblose Umwelt den Wehrlosen Millimeter für Millimeter einzwängt und auf den Abgrund zuschiebt. Konnte es eine größere Wehrlosigkeit geben als die eines Leidens, das einen betroffen hat und für das man nun bestraft werden soll? Konnte es eine größere Niedertracht geben? Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher