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Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx
Autoren: Stanislaw Lem
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nur gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Niemand hatte bisher von so einem Vorfall gehört. Wer hätte die Vermutung bestätigen können? Bestimmt der Psychiater, der Cornelius behandelt und ihm geholfen oder vielleicht nur erlaubt hatte, diese Arbeit zu übernehmen. Aber er würde mit Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht nichts sagen. Um sie brechen zu können, brauchte man ein Gerichtsurteil. Aber in sechs Tagen mußte »Anabis« ...
    Blieb also Cornelius selbst. Ahnte er es? Hatte er jetzt begriffen, nach alledem, was geschehen war? Pirx konnte sich nicht in die Situation seines ehemaligen Chefs versetzen. Er war unantastbar wie hinter einer Glaswand ... Selbst wenn gewisse Zweifel in ihm aufgekommen waren, würde er sie sich nicht eingestehen. Er würde sich gegen solche Schlußfolgerungen wehren, das war wohl klar ...
    Dennoch würde es herauskommen – nach der nächsten Katastrophe. Wenn dazu noch »Ares« unversehrt landete – mußte die rein statistische Berechnung, daß die Computer versagt hatten, für die Cornelius verantwortlich war, den Verdacht auf ihn lenken. Man würde jede Einzelheit unter die Lupe nehmen und den Spuren folgen, bis man zur Quelle gelangte. Aber er, Pirx, konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und warten. Was tun? Er wußte es genau: Man mußte den ganzen Maschinenverstand des »Anabis« lahmlegen, über Funk das Originalprogramm übermitteln, und der Informatiker des Raumschiffs würde damit innerhalb weniger Stunden zurechtkommen.
    Um mit so etwas auftreten zu können, benötigte Pirx Beweise. Und wenn es nur einer war, nur eine einzige Spur. Aber er hatte nichts. Einzig die Erinnerung an eine Krankheitsgeschichte, vor Jahren flüchtig in Spiegelschrift gelesen ... Spitznamen und Klatsch ... Anekdoten, die über Cornelius erzählt wurden ... den Katalog seiner Schrullen. So etwas konnte er der Kommission als Beweis für die Krankheit und als Ursache der Katastrophe nicht vorlegen. Selbst wenn er ohne Rücksicht auf den alten Mann eine solche Anklage aussprach, blieb immer noch »Anabis«. Setzten die Operationen ein, würde das Raumschiff binnen einer Stunde wie blind und taub sein, so als hätte es keinen Computer mehr.
    Die Hauptsache war »Anabis«. Pirx erwog schon die verrücktesten Möglichkeiten: Da er offiziell nichts tun konnte – warum sollte er nicht starten und »Anabis« von Bord aus das Resultat dieser Überlegungen und die Warnung übermitteln? Die Konsequenzen interessierten ihn nicht, aber es war zu riskant. Er kannte den Piloten des »Anabis« nicht. Hätte er denn selbst den Rat eines Fremden befolgt, der sich auf solche Hypothesen stützte? Wohl kaum ... Blieb also einzig Cornelius selbst. Er kannte seine Adresse: Boston, Syntronics. Aber wie konnte er einen so mißtrauischen, pedantischen und übertrieben gewissenhaften Menschen zu dem Eingeständnis bewegen, ausgerechnet das getan zu haben, was er sein Leben lang zu vermeiden versucht hatte? Vielleicht würde er in einem Gespräch unter vier Augen, wenn man ihn auf die Gefahr aufmerksam gemacht hätte, in der »Anabis« schwebte, Einsicht zeigen und die Warnung unterstützen, denn immerhin war er ein redlicher Mann. Aber in einem Gespräch zwischen Mars und Erde, mit achtminütigen Pausen, konfrontiert mit einem Fernsehschirm statt mit einem lebendigen Menschen – sollte er so einem Wehrlosen eine solche Anklage ins Gesicht schleudern, verlangen, daß er sich zu dem – wenn auch unbeabsichtigten – Mord an dreißig Leuten bekannte? Unmöglich.
    Er saß auf dem Bett mit gefalteten Händen, als betete er. Es kam ihm unglaublich vor, daß so etwas möglich war: alles zu wissen und nichts unternehmen zu können. Er ließ den Blick über die Bücher auf dem Regal wandern. Sie hatten ihm geholfen, durch die eigene Niederlage. Sie alle hatten verloren, weil sie sich um die Kanäle gestritten hatten beziehungsweise um das, was auf einem fernen Fleckchen in den Linsen der Teleskope so aussah, aber nicht um das, was in ihnen selbst war. Sie hatten um den Mars gestritten, den keiner von ihnen je gesehen hatte. Gesehen hatten sie auf den Grund der eigenen Seele, die heroische und fatale Bilder ausbrütete. Sie hatten ihre Phantasiegebilde in einen Raum von zweihundert Millionen Kilometern projiziert, statt über sich selbst nachzudenken. Und auch jetzt und hier hatte sich ein jeder vom Kern der Sache entfernt, der sich in das Dickicht der Computertheorien begab, um dort nach den Ursachen
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