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Pesch, Helmut W.

Pesch, Helmut W.

Titel: Pesch, Helmut W.
Autoren: Die Kinder der Nibelungen
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meine ich nicht. Wo steht das?«
    Dann sah er es selbst. Es waren in der Tat nur Kratzer, die vermutlich nur bei diesem speziellen Licht Sinn ergaben. Aber er fühl-te sich fast ein wenig gekränkt, weil dies ihm die sorgsam vorberei-tete Pointe verdorben hatte. »Kannst du da auch was lesen, Gunni?«
    Seine Schwester, die wusste, wie leicht ihr Bruder beleidigt war, versuchte, die Situation zu bereinigen. »Komm«, sagte sie. »Die Inschrift, die wir meinen, ist auf der anderen Seite.«
    Sie gingen um den Brunnen herum. Dort war unmittelbar über dem Boden, früher von Gras und Unkraut verdeckt, doch jetzt frei-gelegt und geputzt, eine Steinplatte in das Gemäuer eingelassen, aus der altertümliche Buchstaben herausgemeißelt waren.
    »Ist aber schwer zu lesen.«
    »Ich les’ sie dir vor«, bot sich Siggi an.
    »Moment noch.« So leicht wollte sich ihr Gast nun doch nicht geschlagen geben. Er kniete nieder und ließ seine Finger über die erhabene Inschrift gleiten.
    »›Hier an die … Quell’ hat Hagen …‹« Er sprach es wie ›Heygen‹
    aus. »›Ernst …?‹«
    »›Hier an diesem Quell hat Hagen / Einst den hürnern Siegfrid
    ‘schlagen!‹« trompetete Siggi.
    Seine Stimme klang unnatürlich laut in der Stille. Selbst das Lied des Vogels war plötzlich verstummt. Der metallene Himmel schien über ihnen zu lasten, als hielte die Natur den Atem an, um auf etwas zu warten.
    »Merkste was?«, lauerte Siggi. »Das ist ein toller Zufall, nicht?«
    Hagen sah ein paar Augenblicke drein, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Er schien immer noch Schwierigkeiten mit dem altertümlichen Deutsch zu haben, aber dann ging ihm ein Licht auf.
    »Klar! Die Nibelungen! Siegfried, der Drachentöter, wurde von Hagen mit dem Speer getötet. Und du heißt Siggi, richtig eigentlich Siegfried, und ich Hagen. Was für ein komischer Zufall!«
    Hagen lachte. Es war in der Tat ein Zufall, dass er über tausend Kilometer mit Schiff und Bahn hierhergefahren war, um seinen Namen auf einer alten Steinplatte zu finden.
    Die beiden Geschwister stimmten in das Gelächter ein.
    Als sie vor Jahren das erste Mal an diesen Brunnen gekommen waren, hatten sie diese Schrift auch nicht lesen können. Doch dann hatte Gunhild, die so etwas in der Schule gelernt hatte, das Ganze mit einem Blatt Papier und einem Bleistift durchgerieben, und sie hatten es ihrem Vater gezeigt.
    Aber auch als der Vater den Text laut gelesen hatte, konnten sie die verschrobene, altertümliche Sprache nicht sofort verstehen. Der Vater hatte es dann in verständliches Deutsch übersetzen müssen.
    Dann hatte er ihnen noch einiges erklärt, was mit diesem Brunnen zusammenhing. Und wenn Siggi sich recht erinnerte, hatte die Mutter ihnen am Abend zum ersten Mal die Geschichte von den Nibelungen erzählt: wie der heldenhafte Siegfried, der den Drachen erschlagen hatte, durch ein Bad im Drachenblut unverwundbar geworden war – ›hürnern‹, das heißt: wie aus Horn; bis eben auf diese winzige Stelle, wo ein Lindenblatt auf seine Haut gefallen war – und wie er beim Trinken an einer Quelle von Hagen mit dem Speer ge-tötet wurde. Bis dahin hatte Siggi die Geschichte gefallen, aber als danach Kriemhild ihre blutige Rache vollzog, hatte er das Interesse verloren; denn der Held, der seinen Namen trug, war ja tot.
    Siegfried war sehr stolz auf seinen richtigen Namen, und es hatte etwa einen Monat gedauert, bis man ihn wieder ›Siggi‹ nennen durfte. Aber wenn man schon mal einen Drachentöter zum Namensvetter hat…
    Seit diesem denkwürdigen ersten Mal waren Siggi und Gunhild immer wieder zu diesem Brunnen gegangen, wenn sie im Wald waren. Etwas hatte sie hierhergezogen; sie wussten selbst nicht genau, was es war.
    Es gab schönere Stellen im Wald, aber hier wurde man beim Spielen nur selten von Wanderern und Touristen gestört.
    Und jetzt, da ihr Sommergast aus dem fernen England gekommen war, war die Versuchung einfach zu groß gewesen.
    »Deshalb haben wir dich hierher gebracht«, antwortete Gunhild.
    »Und wie hieß noch mal die Frau in der Geschichte?«, fragte Hagen unvermittelt und sah dabei Gunhild an.
    »Kriemhild«, sagten Siggi und Gunhild wie aus einem Mund.
    »Oder auch Gudrun«, meinte Hagen.
    Hagen ging wieder auf den Brunnen zu, als würde er magisch davon angezogen. Er berührte die Steinplatte, dann sah er zu den Bäumen auf.
    »Linden gibt es hier auch«, stellte er fest. »Ist das die Stelle, wo …?«
    »Ach, nee. Es gibt viele Siegfriedsquellen
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