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Peehs Liebe

Peehs Liebe

Titel: Peehs Liebe
Autoren: Norbert Scheuer
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dem sie einst auf bedeutenden Bühnen Europas Erfolge gefeiert hatte. Vor Jahren hatte Annie in der Stadt in der Theaterkantine gearbeitet und heimlich bei Proben zugesehen. Sie liebte den staubigen Geruch, der aus den Kulissen strömte, die biegsamen grazilen Körper in Scheinwerferkegeln, die schwebend erschienen wie Elfen.
    Annie berührte die dürren Finger und Füße der gerade gestorbenen Frau, spürte den Tod, seine leibhaftige Anwesenheit, wie er unsichtbar umherzuwandeln schien und sich in die Körper schlich, darin heimlich lebte. Sie blickte durch das geschlossene Fenster in den verwilderten Park und weinte.
    Â«Hilf mir endlich», sagte Magda. Annie verstand sich nicht gut mit ihr, wusste, dass sie hinter ihrem Rücken bei den Kolleginnen über sie herzog, weil sie sich zusehr um Rosarius kümmerte, ihm immer wieder Schreibzeug gab, mit dem Rosarius, nach Magdas Meinung, doch nur sinnloses Zeug kritzelte und ihnen mit seinen Klecksereien unnötige Arbeit machte. Sie fasste vorsichtig unter den Kopf der Tänzerin. Gemeinsam mit Magda drehte sie die Frau zur Seite. Die Haut der Toten hatte eine gelbe Färbung angenommen, nur ihr Rücken wirkte noch lebendig. Während Annie die Tänzerin festhielt, seifte Magda den Waschlappen ein, reinigte Rücken, Gesicht, Hals, Hände und Ohren, trocknete mit dem Handtuch alle Körperstellen gründlich ab, wusch dann Brust, Bauch und Achselhöhlen. Annie suchte im Schrank nach einem schönen Nachthemd, schnitt der Tänzerin die Fingernägel, kämmte ihre Haare und glättete die Augenbrauen mit einem Tupfer Creme, knetete ihre Finger geschmeidig und faltete zuletzt ihre knochigen Hände zusammen. Später kehrte sie allein noch einmal zurück, lackierte die Zehennägel der Tänzerin und cremte ihre kleinen Füße ein.
    Â 
    P eeh wohnte ein Jahr, bis zum Herbst 1952, mit ihrer Mutter bei uns in der Pension, bis sich die Mutter schließlich wieder mit ihrem Mann, dem Apotheker, versöhnte. Sie wollte auch nicht, dass ihr Kind noch länger mit mir zusammen war, sie meinte, Peeh übe nicht genug Klavier, da sie viel lieber mit mir herumstromere. Den Flügel kaufte sie Kathy ab.
    Peeh besuchte damals in Kall die Schule, wo ich auch hätte hingehen müssen, wenn ich nicht zu blöde gewesen wäre. Kathy war mit mir wegen meiner Dummheit und Aphasie bei einem Spezialisten in der Stadt gewesen. Der Arzt hatte erklärt, ich hätte nur ein halbes Gehirn, die andere Hälfte, auf der sich normalerweise das Sprachzentrum befinde, sei nur ein milchiger Brei, eine Grütze, die bei mir nur dazu da sei, damit es nicht hohl klinge, wenn man auf meine Schädeldecke klopfe, was er dann auch gemacht hatte. Er hatte dabei gelacht und Kathy zugezwinkert, und es hatte tatsächlich kein bisschen hohl geklungen. So habe ich nie eine Schule besucht, habe auch nicht richtig schreiben gelernt. Ich wäre gern zur Schule gegangen, schon weil Peeh dort war.
    Ich war traurig, als Peeh nicht mehr bei uns wohnte, denn ich hatte niemanden mehr, der mit mir spielte. Ich saß stundenlang allein auf dem Waldboden, suchte Muster und Symmetrien, irgendetwas, das sich wiederholte, denn ich mochte es gerne, wenn sich Dinge wiederholten. Ich glaube, alles wiederholt sich, auch wenn wir es nicht merken, denn wenn es anders wäre, könntenwir gar nicht leben. Wenn ich keine Ähnlichkeiten mehr zwischen Dingen sah, schrie und kreischte ich wie ein Irrer. Deswegen und weil ich meine Schnürsenkel nicht binden konnte und immer noch zu klein und zu schmächtig für mein Alter war, ließ man mich nicht in die Schule gehen. Manchmal, wenn eine Fichtennadel vom Waldboden verschwunden war, weil eine Ameise sie weggeschleppt hatte, ging es mir schlecht, stundenlang suchte ich nach der Nadel, denn es war ja eine ganz besondere Nadel, die genau da hingehörte, eine besondere Form und Farbe hatte und so einzigartig wie keine andere Fichtennadel auf der Welt war. Durch Blattwerk fiel Sonnenlicht, das an Zweigen und Spinnweben und auf dem Waldboden leuchtete, wo ich immer noch nach der winzigen Nadel suchte, während über mir Buchfinken, Sommer- und Wintergoldhähnchen sangen, ein Kleiberweibchen geschickt an Baumstämmen auf- und abkletterte und dabei Insekten und Spinnen suchte, die sich in den Ritzen der Borke versteckt hielten. Ich blieb gern bis zum Abend im Wald, dann hingen Sterne an den
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